Beim Erzengel Michael
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Seit einigen Jahren wohnen wir im Hochparterre eines elfstöckigen Plattenbaus mitten in Berlin. Baujahr Orwell, 1984. Die Berliner Mauer zog damals unerschütterlich ihrer Wege durch die Stadt. Kam von der Stallschreiberstraße querfeldein, umrundete das Engelbecken, begrub es im Todesstreifen, und folgte dem Engeldamm bis zur Schillingbrücke. Die Ruine der Michaelkirche stand im Schatten eines groben Kontrollturms. Presbyterium und Querschiff waren nach dem Krieg notdürftig wieder hergerichtet worden. Die Gläubigen knien und beten seither nach Westen. Nicht mehr, wie früher, nach Norden. Schon immer gab es hier eine ansehnliche polnische Gemeinde. Sonntags wird die Abendmesse in polnischer Sprache gelesen.
W. lebte immer im Wedding. Vor der Mauer, während der Mauer und nach der Mauer. Ich kenne die Stadt nur ohne Mauer. Ich befand mich lange Zeit an anderen Enden der Welt. Nach Berlin kam ich aus dem Osten, aus Warschau. Lange nach ihrem Fall. Offenbarte sich die Mauer. Im Frühsommer 1999. Mir. Als ich zum ersten Mal vor dem unversehrten Glockenturm der Michaelkirche stand. Unter dem schneeweißen Erzengel Michael. Auf jungem Rasen. Inmitten einer eilig und nach historischen Plänen wieder erstandenen Baumanlage. Als ich unsere neue Wohnung zum ersten Mal von außen betrachtete. Da spürte ich die Mauer auf der Haut. Im Nacken. Und unter den Schuhsohlen. Sie stand leibhaftig vor mir. Trennte schlagartig das Sichtfeld. Die Wortwahl. Drüben. Sagte W. War Westen. Kreuzberg. Die Himmelsrichtungen sind nicht die von Sonne und Mond. Unten, fuhr er fort, raste die U-Bahn ohne Halt durch. Oben ist die Grenze mitten in der Stadt.
Bereits die Nachbarn im vierten Stock konnten hinüber starren. Über die Mauer, über den Todesstreifen, über das zugeschüttete Engelbecken, über den Wachturm, über die Schießscharten, über die Schäferhunde, über die Selbstschussanlagen. Hinein in die Küchen der Kreuzberger Türkinnen. In ihre Kochtöpfe. Unter ihre Kopftücher.
Unser Hausengel, der Erzengel Michael ist der Patron des Deutschen Volkes, der Katholischen Kirche, der Soldaten, der Apotheker, Eicher, Gewichtemacher, Kaufleute, Bäcker, Bankangestellten, Drechsler, Glaser, Maler, Radiofachleute, Ritter, Schneider, Vergolder, Versilberer, Blei-, Zinn- und Kupfergießer, aber auch der Armen Seelen, der Sterbenden, der Kirchhöfe, er sorgt für einen guten Tod und schützt gegen Blitz und Ungewitter. Ich nehme an, er war letzte Nacht in Rom. Und stand dem sterbenden Papst bei. Heute abend wird wieder die Messe in polnischer Sprache gelesen.