Beim Erzengel
Dienstag, Mai 31, 2005
  Ungerecht verteilte Wörter .

In einer längst vergangenen alten „Zeit“ (ich lese nur alte Zeitungen) lese ich, dass Worte mehr sagen als Gerüche. Versuchsteilnehmer bekamen Luft zu schnüffeln und gleichzeitig wurde ihnen ein Wort dazu gezeigt. Der Versuch bewies, dass derselbe Gestank als angenehmer beurteilt wurde, wenn das Wort „Cheddarkäse“ dazu erschien, als wenn das Wort „Körpergeruch“ auf der Tafel stand. Auch als den Probanden reine Luft zugeführt wurden, reagierten sie mit „nahezu identischer Hirnaktivität“ auf die Wörter. Cheddarkäse bekam immer den Vorzug vor Körpergeruch.

Jan Faktor, der diesjährige Döblin-Preisträger, las am Sonntag in der gläsernen Akademie der Künste am Pariser Platz aus „Schornstein“, seinem unveröffentlichten Roman. Ein Textausschnitt endete mit dem Satz „Sie roch Auschwitz und fiel um.“

Was heißt das nun? 
  Ungleich verteilte Wärme .

In Japan war das offensichtlich. Dass nicht jeder Zugang zu Wärme hat oder findet. Hier sind Zuteilungen jeder Art komplizierter.

Gestern abend auf dem Heimweg im Engelbecken: Die fünf Kleinen im Nest im Schilf schlafen. Mutter Schwan putzt sich. Vater Schwan genehmigt sich in der Kneipe einen „Sundowner“. Wie im richtigen Leben. Ich war nach zweieinhalb Stunden Tai Chi k.o. Wie nach einem Boxkampf. Eine Einzelstunde und eine Gruppenstunde. Und mit dem Fahrrad zweimal quer durch die Stadt.

Heute früh wachte ich auf und fühlte mich so elend in allen Knochen, dass ich beschloss, ein Bad zu nehmen. Und Jurewicz zu lesen. Ich hatte ihn auf der Buchmesse in Warschau getroffen. War entsetzt über sein Aussehen. Alkohol zeichnet. Mehr als die Jahre. Er schloss mich in die Arme. Und zitterte. Ich hatte sein Buch im Zug angelesen. Und mich gefragt, wie lange kann ein Autor die verlorene Landschaft der Kindheit beschwören?

In der Badewanne. Rosmarin. Der Rücken tut weh. Jeder Muskel. Die Haut ist gereizt. Zuviel Chi, meinte W. am Telefon. Er marschierte in Stralsund im strömenden Regen über den Campus zu seiner Vorlesung. Und Jurewicz beschreibt zum wievielten Mal seinen Versuch, Lida wiederzufinden? Den Ort in Weissrussland, den er als Fünfjähriger verlassen hatte. Jurewicz beschreibt zum wievielten Mal seine Sehnsucht, nach der Heimat, nach dem Haus, nach dem Zimmer? Nuanciert und erschütternd. Zum wievielten Mal? Fasst er in Worte, was Traurigkeit ist. Was Einsamkeit. Was das ist, was ein Mensch im Leben nicht hat. Und vermisst. Schmerzlich. Und ich. Hochmütig. In der Badewanne. Das Wasser wird kalt. Ich merke es nicht. Hänge mit den Augen an Jurewiczs Erinnern, klammere mich mit den Händen an die aufgeklappten Buchdeckel. Nackt im kalten Rosmarinwasser. Eine kühle Erkenntnis. Bei mir ist es umgekehrt. Nicht nur, dass ich nichts wissen will von meiner goldenen Heimat, mich nach keinen lieben Tanten und Onkeln sehne, mich abgrenze von den sonnenlosen Wintern meiner Kindheit. Nein. Mehr noch. Ich schrieb einen Roman über eine nicht ganz erfundene Figur. Ich fuhr nach Amerika. Weil dort Spuren und Nachkommen meiner Figur vorhanden sind. Und fand einen Großvater. Meinen ersten und einzigen Großvater. Ich sehne mich jetzt nach einem Dorf in Pennsylvania. Nach einem einäugigen Pferd. Fand eine Großmutter. Eine ganze Familie. Die mich in die Arme schloss. 
Sonntag, Mai 29, 2005
  Sonntagsschule .

Am Morgen. Tai Chi im Park vor der Kirche. Danach die jungen Schwäne im Engelbecken besucht. Sie erhielten gerade eine ihrer ersten Lebenslektionen. Seit ich aus Warschau zurück bin, gibt es keinen Nachtfrost mehr. Gestern war mit 34° der heißeste Maitag in Berlin seit über hundert Jahren. Ich überwinde mich also und gehe am Morgen raus und mache meine langsamen Übungen beim Erzengel. Ertrage die Blicke der Nachbarn. Im Rücken und im Genick. Der Rentner und der Kirchgänger. Die kleinen Schwäne haben ihren Körperumfang bereits verdoppelt. Sie ertragen meine Blicke auch. Sie mussten heute lernen, von ihren Eltern verlassen zu werden. Die großen Schwäne flogen quer über das Engelbecken. Die Kleinen versuchten ihnen nachzukommen, paddelten mutig in die entsprechende Richtung. Aber da flatterten die Großen bereits mit Getöse wieder auf und setzten sich in der entgegengesetzten Ecke wieder aufs Wasser. Die Kleinen wendeten. Eifrig. Suchten. Sofort. Die Großen verließen wieder ihr Gesichtsfeld. Dies wiederholte sich einige Male. Bis die fünf in die Geborgenheit und Geschlossenheit zurückkehren durften. In die Mitte genommen wurden. In Einerkolonne dem Schilf entgegen. Die Mutter vorne, der Vater hinten. Oder umgekehrt. Ich fragte mich, ob das beim Menschen auch so rapide geht.

Am Mittag in der Akademie der Künste. Verleihung des Alfred-Döblin-Preises an Jan Faktor. Der neue Glasbau am Pariser Platz, erst vor einer Woche eröffnet, kämpft mit den Widrigkeiten des Daseins. Die Maihitze staut sich bereits in den durchsichtigen Räumen. Toiletten gibt es nur im 2. Untergeschoss. Der private Sicherheitsdienst hindert einen immer wieder am Übertreten von unsichtbaren Schwellen. Ein Stück Originaldöblin über die Liebe gehört. Eine Laudatio vom Unfeinsten. Der Laudator stellte sich über den Preisträger. Der Preisträger bekam den Preis (einen Umschlag und eine einzelne gelbe Blume) und las zwei Fragmente aus seinem unveröffentlichten Roman „Schornstein“. Über Gerüche und Körperausscheidungen. Der Appetit auf den Sonntagsbraten verging von selbst. Dennoch danach auf der Dachterrasse ein Glas Sekt getrunken. Das Wundern hört nie mehr auf. So einen Blick über Berlin hatte ich noch nie.

Am Abend wollte ich mir einen Ume-Tee kochen. Mich mit Japan versöhnen. Endlich die Dose öffnen, die ich am Tsukuba-San gekauft hatte. Darin zwei aromadicht (wie ich annehme) verschweißte Folienpackungen. Und ein winziges Plastiklöffelchen. Wie niedlich, denke ich fast wehmütig. In Japan wird man umsorgt. Ich schneide die eine Folie auf. Bin überrascht – schneeweißes, feinstes Pulver! Gut, dass ich dies nicht ahnte. An den Grenzen und Flughäfen außerhalb des Landes. Bei den Spezialbehandlungen, die meinem Gepäck zuteil wurden. Ich verzichte vorsichtigerweise darauf, den „Tee“ in meinem chinesischen Tonkännchen aufzubrühen. Dosiere vernünftigerweise mit dem beigelegten Löffelchen. Schütte das Pulver in eine normale Tasse, gieße heißes Wasser darüber. Und bin auf alles gefasst. Vor allem auf Süßigkeit. Auf furchtbar süße Süßigkeit. Die Flüssigkeit verfärbt sich bräunlich. Bleibt aber klar. Ich nehme einen Schluck. Mutig. Wie die kleinen Schwäne. Wenn sie auf der für sie unendlichen Wasserfläche die Richtung ändern. Um Vater und Mutter entgegen zu schwimmen. Darauf war ich dann doch nicht gefasst. Ich schlucke leer. Pflaumenblütentee vom Tsukuba-San schmeckt salzig. Wie Schwiegermutters geliebte „heiße Tasse“. Hühnerbrühe. Kraftbrühe. In der Nase Frühlingsblüten. Auf der Zunge Sonntagsbraten. 
Freitag, Mai 27, 2005
  Gehirn-Training .

Vor drei Monaten haben wir Japan verlassen. Ich bin also länger wieder außerhalb des Landes als ich je innerhalb war. Trotzdem läßt es mich nicht los.

Bei der Premiere der SCHAM-Anthologie in der Abgusssammlung wurde ein Zitat aus einem Interview vorgelesen. Japaner entschuldigen sich, wenn sie Geschenke verteilen: „Das ist gar nichts, was ich dir da schenke, das ist etwas ganz Schlechtes, entschuldige, dass ich dir das schenken muss ...“. Dahinter steckt, was das Interview in der Anthologie nicht erklärt, der gesellschaftliche Zwang, jedes „schlechte“ Geschenk mit einem „besseren“ zu erwidern. Dies gebietet die Höflichkeit. Und kann ausarten. Man verschenkt aus Verzweiflung schon mal Haus, Hof und das makellos weiße Auto.

Hiroko hatte sich bei mir für das Erdbeben in Tsukuba entschuldigt. Dafür, dass es mir Unannehmlichkeiten bereitet hat, mich aus dem Schlaf gerissen und mein Gleichgewichtssinn für Stunden, Tage, ja vielleicht für immer gestört hat.

Längst bin ich der alten Routine wieder verfallen. Ein paar Tage hier, ein paar Tage dort. Stralsund. W. Berlin. Warschau. Erzengel. Kühlschrank. Computer. Viren. Und so weiter. Überall und immer kann ich mittlerweile wieder schlafen. Nur etwas gelingt mir nicht: der tägliche Weg ans Klavier. Vorsichtig taste ich mich an. Das alte Liegnitz ist verstimmt. Und zu Recht. Ich bin ruhelos. Kann den Klavierstimmer nicht bestellen. Die Finger gehorchen mir nicht. Auf der Computertastatur funktionieren sie. Am Klavier geben sie nicht einmal eine gemäßigte A-Dur-Tonleiter her. Geschweige denn einen D-moll-Akkord. Musik ist, lese ich heute in einer alten Zeitung, der „Sprachträger für unser Gedächtnis“. Letzte Nacht träumte ich von einer Frau aus der Schweiz. Sie war früher einmal Nonne. Und kehrte irgendwann dem Kloster und der katholischen Kirche den Rücken. Machte sich selbständig. Ich erkannte sie im Traum im ersten Augenblick nicht wieder. Weil sie, wie ich auch, älter geworden war. Fünfzehn, zwanzig Jahre sind vergangen. Und es war mir peinlich, sehr peinlich.

Musik, sagt der Neurologe in der Zeitung, sei „der stärkste Reiz für die Neuroplastizität“. Musik hören oder machen sei Schwerstarbeit. Musik bewirke bereits nach kurzer Zeit neuronale Vernetzungen und aktiviere das Zusammenspiel unserer beiden Gehirnhälften. Menschen, die ein Instrument spielen oder singen, würden in ihrer „emotionalen Intelligenz“ gefördert. Die Beschäftigung mit Musik sensibilisiere die Wahrnehmungsfähigkeit.

Ich habe es heute mit Bach versucht. Carl Philipp Emanuel. Johann Christian. Wilhelm Friedeman. Mit der Sonate für Violine und obligates Cembalo. Mit einem Menuett von Christian Petzold. Bachwerkverzeichnis Anhang 115.

Etwas sträubt sich gewaltig in mir gegen den Arbeitsspeicher, mit Hilfe dessen mein Gehirn und meine Fingerspitzen komponierte Strukturen und Ordnungen wiedererkennen sollten. 
Donnerstag, Mai 26, 2005
  Erschöpfungen .

Wieder ein Wochenende mitten in der Woche. Wieder Sonntagabendstimmung schon am Donnerstagvormittag. W. kam nach Berlin. Ich aus Warschau. Zu meiner eigenen Lesung.

Das Café am Engelbecken breitet sich aus. Zusätzliche Tische und Bänke wurden zu beiden Seiten der Baucontainer am Rand des Wasserbeckens aufgestellt. Der Uferstreifen befestigt und mit Kies aufgefüllt. Im Wasser wächst das Schilfrohr in den Himmel. Vorgestern sass die Schwanenmutter noch im Nest und brütete. Seit gestern purzeln fünf hellbraune kleine Wollknäuel im Wasser herum. Die Schwaneneltern haben sie ans gegenüberliegende ruhigere Ufer gebracht.

Gestern nachmittag, auf dem Weg zu meiner eigenen Lesung, die Sonne brütete am Himmel wie die Schwänin im Schilfgras beim Erzengel, machten wir einen Ausflug in die Stadt. Wir sind so selten tagsüber zusammen in Berlin. Wir besuchten das Holocaust Mahnmal. Besuchten? Begingen das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. So der offizielle Name. Folgten den Wegweisern vom Potsdamer Platz. Es beginnt am Straßenrand. Und hört in der Hölle auf. Stufen führen zu Notausgängen hinunter. Es hat keinen definierten Eingang, keinen definierten Ausgang. Ist ohne Anfang. Ohne Ende. Ohne Schriftzug. Ohne Portal. Nur in den Boden eingelassen, unscheinbar, übertretbar, die Bronzetafel mit dem „benimm-dich!“. Die Hausordnung für Kein-Haus. Das an jeder Stelle, zu jeder Zeit betreten werden kann. Eisenmans Stelenfeld zwischen dem Brandenburger Tor und dem Potsdamer Platz. Neben der Baustelle, wo unter enormen Sicherheitsvorkehrungen die neue amerikanische Botschaft entsteht. Es soll so groß sein ist wie ein Fußballfeld. Und seit der offiziellen Eröffnung spielen darin nicht nur Kinder Verstecken. Schießen nicht nur Erwachsene Erinnerungsfotos. Setzen sich nicht nur Touristen auf die flachen, am Rand in die Straßenverkehrsordnung ausufernden flachen Stelen. Wie Ruhebänke. Was Opferverbänden bitter aufstößt, Geschichtspflegern und Schambewussten. Wir stiegen hinein in die akkurate Stelenplantage. Hinein in das abschüssige Steingelände. Von außen betrachtet, vom Straßenrand, vom Fahrradstreifen, vom Bürgersteig, vom Tiergarten, vom Heißluftballon, vom Sony-Center, von der Glaskuppel des Reichstages, verschwinden die Besucher. Schnell. Die Besucher? Verschluckt das Mahnmal. Stumm. Die grauen Stelen wachsen über unsere Köpfe. Schmucklos. Kantig. Regelmäßig. Geometrisch. Mit nur leichten Abweichungen. Schieflagen. Das Nichts. Das absolute Nichts. Die Abwesenheit. Von Spuren. Ritzen. Wurzeln. Aber bereits sonnenwarm. Unter der flachen Hand. An einem frühen Hitzetag im Mai. Wie durch ein Wunder bleibt für uns Anwesende die Stadt sichtbar. Und hörbar.

Am Abend las ich in der Abgußsammlung zum ersten Mal „Kein Märchen“ öffentlich vor. Es hat mich so erschöpft, dass ich heute den ganzen Tag kein Wort über die Lippen brachte. W. blieb zwei Stunden länger. Ich begleitete ihn am Mittag taumelnd zum Bahnhof. Und versank danach in tiefen Schlaf. 
Samstag, Mai 21, 2005
  Kontrastprogramm .

Telegramm Warschau 2. Sonne. Morgen soll hier der Sommer ausbrechen. Abschied vom Meister. Gestern an einer Veranstaltung (Bolecka/Mosebacher) unter dem Patronat einer deutschen Prinzessin. Wie seltsam. Von der leeren Fabrikhalle in einen glänzend renovierten Palast an der Ujazdowskiallee. Ein wunderbares Fragment über das Weisse von Schnee gehört. Unübersetzbar deutsch. Über die Leere nachgedacht und unsere japanische Wohnung. Keine Kälte verspürt. In der Nacht allein durch mein Warschau zur Metro marschiert. Nach Ursynow gefahren. Das gehört alles mir. Was für ein Gefühl. 
Freitag, Mai 20, 2005
  1974 .

Telegramm Warschau. Buchmesse. Endlich erschien die unzensierte Ausgabe von Konwickis Tagebuch aus dem Jahr 1974. Nur seinetwegen bin ich hier. Schau mir nebenbei noch die Auftritte des Gastlandes Schweiz an. Eine minimalistische Fotoausstellung von Fotografen, deren Namen ich noch nie gehört habe und deshalb auch nicht wiedergeben kann. Duo-Lesung von Hugo Loetscher und Julia Hartwig. Na ja. Natasza Goerke und Peter Weber. Wunderbar. Gestern Nacht Macbeth-Premiere in der Waryński-Halle, einer leeren Fabrik in Wola, laut und blutrünstig. Wir sassen auf einem Baugerüst. Jarzyna (= Regisseur) hatte den letzten Platz in der obersten Reihe, neben mir, eingenommen. Ich fragte ihn, während das Premierenpublikum hilflos auf dem durchsichtigen Gerüst herumturnte und seine wackligen Sitze suchte, ob die Konstruktion uns aushalten werde. Er nickte zuversichtlich und vertraute mir an, er würde jetzt, trotz später Stunde (der Beginn der Vorstellung war auf 22 Uhr festgesetzt worden), zum ersten Mal seit Monaten in dieser riesigen Halle nicht frieren. Das sind wir, die Premierenbesucher, versicherte nun ich zuversichtlich, die hier Wärme hineinbringen. 
Dienstag, Mai 17, 2005
  Berlin bleibt bunt .

Bis eben war es kalt. Karneval der Kulturen. Pfingsten. Eisheilige. Mamertus, Pancratius, Servatius, Bonifatius und die Kalte Sophie. Heute das erste Frühstück auf dem Balkon. Mit W. und dem Erzengel.

Bis eben habe ich übersetzt. Heute nachmittag fahre ich nach Warschau. Zurück lasse ich, einmal mehr, den leeren Kühlschrank. Der letzte Sommer war verregnet. Ich übersetzte das Drehbuch zur Verfilmung von Günter Grass‘ Roman „Unkenrufe“ aus dem Polnischen ins Deutsche. Dies ist kein Witz, sondern eine deutsch-polnische Co-Produktion. Vor ein paar Tagen kam der Folgeauftrag per Telefon. Transkription und Übersetzung von zwei Interviews. Für das Buch, das zum Film entstehen soll. Zum Film, der nach dem Buch von Grass gedreht wurde. Wieder kein Witz, sondern eine Werbemaßnahme. Ich willigte ein. Die Termine passen. Die Eisheiligen überlebt man am besten zu Hause am Schreibtisch.

Bis eben brannten die Augen. Die Interviews mit dem polnischen Regisseur Robert Gliński und der polnischen Hauptdarstellerin Krystyna Janda kamen per Post. Auf Tonband. Er redet 32 Minuten, sie 40 Minuten. Hört sich unscheinbar an. Setzt sich um in 20 Stunden Arbeit. Die deutschen Co-Produzenten wollten mir die Interviews auf einer VHS-Kassette liefern. Ich lehnte ab. Am Telefon. Und sagte: „Aus technischen Gründen.“ Unsere Wohnung beim Erzengel ist seit über einem Jahr fernsehfrei. Zum Glück. Denke ich jetzt. Denn ich hätte die 20 Arbeitsstunden auf dem Boden vor diesem unansehnlichen Möbel verbringen müssen. Ich hätte meinen Schreibtisch vor den Kasten tragen müssen. Ich hätte meinen Computer vor dem Ding aufbauen müssen. Es wäre ein Bildschirm vor dem anderen gestanden. Und ich hätte auf den Knien das Videogerät bedienen müssen. Und dabei gucken, wie ich gucken kann. Ich bin nicht mehr in Japan. Ich habe 20 Stunden lang kein Gesicht gesehen. Und dennoch brennen meine Augen. Vom Vor- und Zurückspulen der Tonspur.

Bis eben grübelte ich dieser Idee nach, die mich schon den letzten verregneten Sommer über beschäftigt hatte. Vernachlässigte dabei W., meine Freunde und meinen Großvater in Amerika. Warum, um Gottes Willen, kam Grass auf die Idee, die deutsch-polnische Versöhnung an einem Friedhof zu exemplifizieren? Und warum gefällt ausgerechnet diese Idee den polnischen Drehbuch-Co-Autoren, dem polnischen Regisseur, dem polnischen Fernsehen, den polnischen Co-Produzenten und den polnischen Geldgebern so gut? Krystyna Janda lacht scheu wie ein Reh auf dem Band. In meinem Arbeitszimmer. Und sagt, so oft ich es nur will, so oft ich ihre Stimme zurückdrehe und den Satz nochmals von vorne beginnen lasse, dass sie dieses Thema weder in ihrer Rolle im Film noch als Privatperson interessiere oder berühre. Dass sie ganz andere Dinge bekümmern. Kleinigkeiten, zugegeben. Dass sie beispielsweise schlaflose Nächte habe, weil im Drehbuch festgeschrieben worden sei, dass Aleksandra Piątkowska, die Polin, die sie im Film spiele und durch die sie Polen im Film repräsentiere, 1989 auf der Danziger Werft vor dem Denkmal der ermordeten Werftarbeiter ihre Zigarette von einem brennenden Grablicht anzünde.

Ich fahre nach Warschau. Besuche Tadeusz Konwicki, meinen alten Meister. „Kalendarz i klepsydra“, sein Tagebuch von 1974 erscheint endlich in der unzensierten Fassung. Darauf warten ich und viele andere seit 15 Jahren. Zeit ist relativ. Wieder bin ich eine Woche weg. Am Sonntagnachmittag verbrachten W. und ich ein paar Stunden auf der Hasenheide. Ich erlöste meine Augen vom Tonband und sah tanzende Menschen am Waterlooufer. Karneval der Kulturen. Grasgrüne Luftballons stiegen in den verhangenen Himmel. Von Kindern, die den Faden aus der Hand fahren ließen. Darauf aufgebläht die Worte „Berlin bleibt bunt“. 
Mittwoch, Mai 04, 2005
  Kirschblütenblätter .

Der Sturm von gestern abend zerfetzte den Berliner Kirschblüten- und Magnolienblütenzauber. Nun liegt er in den Straßengräben. Oder klebt auf Autos, die draußen unter den Bäumen übernachten. Ich fuhr am Morgen zum Tai Chi und wunderte mich auf der Bergmannstraße über rosagesprenkelte Karosserien. Japan in Kreuzberg.

Ich arbeite. Schreibe. Stehe früh auf. Sitze nachts mit Maria K. in der Kneipe. Mein Leben ist voll von Maria K. Unschuldig überredete sie mich, meinen Beitrag zu einem Literaturwettbewerb zu leisten. Bestimmt hast du was zu dem Thema. Sagte sie listig.

Meine Japantexte sind ein Buch. Es reicht, die Texten unter einen bestimmten Begriff zu stellen und schon wächst das Selbstbewusstsein. Jetzt habe ich zwei Bücher und keinen Verlag. In deutscher Sprache. Und drei in polnischer. Und keinen Verlag. Der Briefträger überreichte mir gestern vor dem Sturm die Scham-Anthologie. Alles findet irgendwann seine innere und äußere Ordnung.

Heute war ich beim Tai Chi allein mit Lizzy. Auch die Menschen bekommen wieder Namen. Sah auf dem Balkon des Hauses gegenüber einen Mann mit nacktem Oberkörper telefonieren. Ich hatte ihn schon kürzlich am Abend so gesehen. Über die Brüstung ragt nur der Rücken. Oder die Brust. Je nach Unruhe. Am Telefon. Im Ohr. Als uns der Wüstenwind heimsuchte. Und es plötzlich 30° heiß war. Während mir die Seide auf der Haut klebte. Fragte ich mich, ob der Mann ganz nackt sei. Heute früh zog er sich während meiner Einzelstunde ein rotes kurzärmeliges Hemd über. Nach dem Sturm haben die Bäume das pubertierende Rosa verloren. Sind erwachsen geworden. Wie der Mann im Leinenhemd. Er setzte sich hin. Und frühstückte. Mit dem Telefon am Ohr.

Morgen fahre ich nach Ahlbeck. Tai Chi am Meer. Am Sonntagmittag holt mich W. ab. Ich verbringe den Wochenanfang in Stralsund. Nehme meinen Laptop mit und arbeite. 

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