Beim Erzengel
Samstag, April 30, 2005
  Japan .

Das richtige Grausen überkommt mich erst heute.

Angeblich, hört man jetzt bei uns, übt Japan Rail West großen Druck auf ihre Mitarbeiter aus, um Verspätungen zu vermeiden. Die Shinkansenzüge, beispielsweise, hätten im letzten Jahr eine durchschnittliche Verspätung von 6 Sekunden (!) erreicht. Dies müsse, fordert das Management, im laufenden Jahr entschieden verbessert werden.

Am 13. Februar sahen wir in Tsukuba den Sportbericht nach den englischen Nachrichten. Ai Miyazato lachte in die Kamera, trug ein sonnenblumengelbes Hemd. Sie war gerade Weltmeisterin im Frauengolf geworden. Ihr Vater wurde um eine Stellungnahme gebeten. Schnitt. Ein ausdrucksloses Gesicht sprach in die Kamera: „Ich bin stolz auf meine Tochter, aber sie muss noch viel trainieren, um bessere Leistungen zu erzielen.“ Schnitt.

Angeblich werden Zugführer, die Verspätungen einfahren, zur „Nachschulung“ geschickt. Man zwingt sie in wochenlangem Psychodrill, ihre Schlechtigkeit der Gesellschaft gegenüber einzusehen. Zu bereuen. Sich selbst zu bezichtigen. Immer wieder.

In jedem Japanreiseführer kann man das Sprichwort nachlesen, das den Kindern angeblich am ersten Schultag beigebracht wird: „Auf einen Nagel, der hervorsteht, haut man drauf.“

Angeblich gibt es mehrere Fälle, in denen die „Nachschulung“ mit Selbstmord endete.

Besagter Zugführer verließ den letzten Bahnhof mit eineinhalb Minuten Verspätung. Weil er zu spät gebremst hatte, 8 Meter zu weit gerollt war und den Zug zurücksetzen musste. In Japan sortieren sich die Menschen auf den Bahnsteigen nach am Boden gezogenen, verschiedenfarbigen Linien. Je nach Zugtyp. Je nach Bahngesellschaft. Niemand wartet orientierungslos am Bahnhof auf seinen Zug. Wer in einen Zug einsteigen will, muss an der richtigen Stelle, in der richtigen Farbe stehen. Und um sich richtig einzuordnen, muss man wissen, welche Art Zug man benützen will. Einen mit 5 Waggons, oder mit 7. Doppelstöckig oder nicht. Mit oder ohne Speisewagen. Raucher oder Nichtraucher. Mit oder ohne Reservierung. Von dieser oder der anderen Eisenbahngesellschaft. Und so weiter. Jede Formation hat ihre eigenen Türabstände. Ein Zug, der nur 8 Millimeter neben seiner roten oder gelben Linie am Bahnsteig zum Halten kommt, bringt bereits alles durcheinander. Die Ordnung. Das Leben. Die Welt.

Angeblich war der junge Zugführer erst seit knapp einem Jahr im Dienst. Und hatte bereits eine „Nachschulung“ hinter sich.

Angeblich ist es unvorstellbar, eine zweite „Nachschulung“ zu überleben. Vor einer dritten „Nachschulung“ bittet man freiwillig um Entlassung.

Der Zugführer musste neunzig Sekunden Verspätung aufholen. Schnitt.

Nach drei Tagen barg man ihn in Amagasaki aus dem verkeilten Führerstand. Schnitt. Die kalte Hand am Bremshebel. 
Freitag, April 29, 2005
  Das Fahrrad am Fahnenmast .

Gestern abend im Bundesrat. Ausstellungseröffnung „Frühling im Herbst“. Maria K. hatte eine Einladung für zwei und nahm mich mit.

Wann kommt man schon in den Bundesrat, das ehemalige Preußische Herrenhaus? Wann kann man schon im Plenarsaal auf Sitzen von Ministerpräsidenten und Ministern sitzen (wir hatten die des Saarlandes inne) und Chopin (während der Redepausen) sowie Reden (Begrüßungsansprache, Grußwort, Festvortrag, Einführung in die Ausstellung) lauschen? Wann kann man schon mit einem Glas Sekt in der Hand in den Wandelhallen stehen bleiben? Rebecca Horns „Drei Grazien“ bewundern? Und ab und zu ein Häppchen von den Silbertabletts greifen?

Die Ausstellung – „Frühling im Herbst“. Vom polnischen November zum deutschen Mai. Das Europa der Nationen 1830-1832 – interessierte uns mäßig. Maria K. hatte sie schon in Leipzig gesehen und ich fühlte mich allein schon von deren Titel erschlagen. Außerdem beriefen sich die Redebeiträge immer wieder auf die „Aufständischkeit“ (oder Aufständigkeit?) Polens, was mir sowohl deutsch wie polnisch (powstańczość) schwer zu schaffen machte. Ich brauchte ein Glas Wein. Und Maria K. war hungrig. Die Bewirtung ließ anfänglich zu wünschen übrig. Miniportionen Bigos im Brotteig, Moccatässchenweise klarer Barszcz mit Schnittlauch. Lech und Tyskie vom Fass. Erst als die Massen sich verzogen hatten, wurden Fischfilets mit Dillgemüse (köstlich!) aufgetragen. Kaviarhäppchen auf Rösti (ein fast helvetisches Wunder!). Polnische Kabanosi. Heringstückchen mit roher Zwiebel. Und Süßigkeiten. Zum Glück hatten wir ausgeharrt. Am Stehtischchen eines entfernten Schriftstellerkollegen, der mich (Maria K. unterhielt sich derweil angenehm mit seiner Begleiterin) mit Fragen löcherte wie „Sagen Sie mal, was sagen Sie denn zum Gombrowiczjahr in Polen?“ Oder: „Sagen Sie mal ... (nachdem ich ihm dreimal erlaubt hatte, mich zu duzen) ... gibt es eigentlich eine gute polnische Grammatik?“ Und, nach einer längeren Pause: „Sagen Sie mal, stimmt es, dass die Posener Dichter im Schatten der Warschauer und Krakauer stehen?“ Draußen war es immer noch nicht dunkel geworden. Der Akkordeon-Spieler spielte polnische Volkslieder. Ein einziger Mann, weißes Hemd, Schlips, dunkler Nadelstreifenanzug sang wehmütig mit. Mit voller Stimme. Die Beine ausgestreckt. In einem der wenigen Ledersessel. Es sind keine Polen hier. Sagte Maria K. Die würden jetzt alle singen. Und die Grazien der Rebecca Horn „im nie genutzten Raum über der Hallendecke“ in Trance versetzen.

Zum Abschied bekamen wir vom Bundesrat eine Plastiktüte geschenkt. Darin steckte der Ausstellungsband mit dem Titel „Polenbegeisterung“, der neben Farbabbildungen sämtliche Grußworte, Redebeiträge, Festvorträge und Pressestimmen der bisherigen Stationen der Wanderausstellung vereint. Und eine Handvoll politische Bildung. In deutscher und polnischer Sprache.

Der Türsteher bat mich, das nächste Mal („wenn Sie wieder den Bundesrat besuchen“) mein Fahrrad nicht an einem der vier Fahnenmaste anzuschließen. Sie hätten eine der Fahnen auswechseln müssen. Und wenn Fahrradschlösser die Stangen umschlungen hielten, bereite ihnen das große Probleme. Über dem Potsdamer Platz hing das letzte Tageslicht. Wir fragten uns, Maria K. und ich, welche der Fahnen denn im Laufe des heutigen Abends hatte eingeholt werden müssen? Die deutsche? Die polnische? Die europäische? Oder die des Landes Brandenburg (da Ministerpräsident Platzeck, derzeit Präsident des Bundesrates, nach Beendigung des Protokolls den Ort des Geschehens unter Polizeischutz verlassen hatte)? 
Mittwoch, April 27, 2005
  17,88 .

Ich bin emotional unausgeglichen. Stelle ich fest und wundere mich nicht. Gestern dieses niederschmetternde Sonntagabendgefühl. Obwohl Dienstag war. Und heute dieses absolute Hoch nach einem kurzen Telefonat mit Warschau.

Über 20 Kilometer bin ich kreuz und quer durch die Stadt gefahren, mit dem Fahrrad, trotz ergiebiger Regengüsse. Bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 17,88 km/h. Die körperliche Trägheit weicht allmählich. Dem Tempo des Tages. Hab den Fahrradcomputer gefunden und in Gang gesetzt.

In Amagasaki kamen um die hundert Menschen ums Leben. Ich kenne diese Züge. Stelle ich fest und wundere mich nicht. Gestern habe ich noch selbst in einem gesessen. In Fukuoka wechselte er die Richtung und alle sprangen auf, weckten die, die schliefen und das waren nicht wenige. Hektisch wurden im völlig überfüllten Pendlerzug alle Sitze gedreht. Japaner können nicht rückwärts fahren. Das gesteht ihnen ihre Gesundheit nicht zu. Wir, der Professor und ich, wussten nicht, wie uns geschah. Hatten es uns doch gerade erst bequem gemacht. Bücher und Ratgeber ausgepackt. Lesestoff für die lange Reise in die Rückentasche des Vordersitzes gesteckt. Der war nun plötzlich verteilt im ganzen Waggon. Hilfreiche Hände reichten Broschüren weiter. In Japan geht nichts verloren, was man anfassen kann. 
Sonntag, April 24, 2005
  Erklärungen .

Es ist mir gelungen, den Schreibtisch freizuschaufeln.
Es ist mir gelungen, den Sonntag zu verschweigen.
Ich sitze stumm. Auf dem Balkon.
Ich schreibe kein Wort auf.
Sage kein Wort. Auf.
Mit Ausnahme der Telefonate. Am frühen Morgen mit W. In London. Am Mittag mit Schwiegermutter. In Berlin. Am Nachmittag. Schweizerdeutsch. Mit J. in London.

W. guckt in London 16 Bilder von Caravaggio an. Heute und morgen.
Ich räume heute meinen Schreibtisch auf. Lege die Belege für unsere Steuererklärung ab. Das Schöne an der Buchhaltung ist, dass irgendwann alles von der Oberfläche verschwindet. Ein ganzes Jahr. Unzählige Besorgungen. Bewegungen. Bemühungen. In einer Erklärung. An das Finanzamt.

Ich sitze an einem schneeweißen Schreibtisch und schaue wörterbuchbefreit in die Nacht. 
Samstag, April 23, 2005
  Dialoge .

Ich konnte gestern kein Wort aufschreiben. Ich habe sie alle ausgesprochen. Ins Engelbecken gekippt. Den offenen Armen des Erzengels geopfert. Bei schönstem Sonnenschein. Saß ich fast den ganzen Tag im Containercafé. W. war gekommen, am Abend. Und gegangen am Morgen. Mitten in der Nacht sind wir zusammen aufgewacht. Ohne Grund. Wie beim Erdbeben in Tsukuba. Waren wir plötzlich hellwach. Und er sagte vom weiten Ende des Bettes her: „Schön, dass du da bist!“ Und schlief auf der Stelle wieder ein. Ich blieb noch so lange wach, bis mein unsinniger Gedanke fertig war: „Mein Satz!“

Wörter sind Allgemeingut. Sätze auch. Es spielt keine Rolle, wer welches Wort, welchen vollständigen oder unvollständigen Satz ausspricht. Im Schlaf, im Traum, oder beim morgendlichen Zähneputzen. Hauptsache. Das Wort. Der Satz. Steht.

Ich erzählte gestern den ganzen Tag im Café am Engelbecken. Die Hände lagen ruhig auf dem Tisch. Die Finger hatten nichts zu tun. Es gab keine Tasten. Keine schwarzen. Keine weißen. Keine Quartensprünge. Keine Mittagsruhe. Kein Laptop. Kein Liegnitz. Weil ich den Mund bewegte. Die Lippen, die Zunge, die Speicheldrüsen aktivierte. Nur deshalb begriff ich gestern, bei einem Glas Earl Grey, dass ich nur in Fremdsprachen schreibe. Mein mechanisches Sprechwerkzeug formulierte es so, dass meine Muttersprache keine Buchstaben kennt. Und ihre Substanz nicht an die Fingerkuppen veräußern will. Sondern aus Frikativen besteht. Rollende rrrrr liebt. Mir saß jemand gegenüber. Und blickte mich an. Hörte zu.

Ich flog nach Washington D.C. und landete im Bernischen Oberaargau. So kommt es, dass ich mich jetzt nach einem Ort in Pennsylvania sehne. Nach dem Stall meines einäugigen Pferdes. Paul gab sein Einverständnis postwendend per email. Ich adoptiere ihn. Als Großvater. Und stelle ihn ein. Als Pferdepfleger. Paul hat heilende Hände. Und wird das zweite Auge öffnen.

Die Zeit zerrinnt. Ich habe angefangen zu sprechen. Zu lesen. Zu hören. Ich verlasse heute den Balkon. Die Wohnung. Gehe spazieren. Durch das Engelbecken nach Kreuzberg. Und wieder zurück. War auf der langen Buchnacht auf der Oranienstraße.

Die Ungeduld wird größer. Es gibt Texte, die berühren. Die mich packen. An mich herantreten. Und es gibt Texte, die bewegen. Die mich verstoßen. Mich ausschließen. 
Donnerstag, April 21, 2005
  Fingerübungen .

Erinnerungen kommen hoch. Wie die Hitze aus der linken Ferse. Die Drohung mit der Amputation tut ihre Wirkung. Seit heute Mittag verteilt sich Wärme. Nach oben. Waden, Schenkel hoch, durch den Rücken. In die Schultern. Und wieder hinunter. Durch die Oberarme. Bis in die Fingerspitzen. Ich stehe auf dem Balkon. Und halte Zwiesprache mit dem Engel. Das Fernsehen ist verschwunden. Trotz Nachtfrost sprießt es in den Blumenkästen. Aus der Erde, die ich nicht in den Müllschlucker kippen konnte. Weil ich die Kästen nicht aus der Verankerung heben konnte. Weil ich ein schwaches Weib bin. Oh mein Engel! Ich werde die letztjährige Blumenerde wässern.

Ich setzte mich zum ersten Mal ans Klavier. Und spürte das Chaos. Das mit heute früh auch auf dem Schreibtisch aufgefallen ist. Übereinandergetürmte Papiere. Disketten. Wörterbücher. Telefonnotizen. Flachgedrückte Weltkarten. Ein Zeitungsschnipsel „Tokio. Erste U-Bahn nur für Frauen“. Prospekte. Einladungen. Die ich nicht annehmen kann. Weil ich ein dreibeiniges Lama bin. Papierfotos. Reste der Reise. Eine amerikanische Briefmarke. Unscheinbar. Fahrkarten. Flugscheine. Robert Walser Mikrogramme. Das kleine Welttheater. Uraufführung. Die habe ich verpasst. Die Finger bewahren Haltung über den Tasten. Aber halten keinen Rhythmus ein. Sogar die Tonleitern stocken. Hinauf. Hinunter. Durch alle Tonarten. Die Finger zucken. Hysterisch. Zurück. Wie die Buchhaltungsbelege unter den Bildwörterbuch.

Die letzte Postkarte aus Maui, schreibt meine Schwester aus Allschwil, ist heute eingetroffen. Ich warf sie in Honolulu am Flughafen im Businesscenter in eine Box, von der man mir versicherte, es sei der Briefkasten. Bevor ich mich allein auf den Weg zu meinem Großvater machte.

Die Finger haben noch im Ohr. Das Maschinengewehrgeknatter der japanischen Sprache. Die Fingerbeeren fürchten das Staccato. Das Seelenlose einer Regelmäßigkeit. Die schlafwandlerische Sicherheit. Die Fingernägel sind sauber. Kurz geschnitten. In die Fingerspitzen dringt Fersenenergie. Ich versuche es mit einem Praeludium.

Ich haue auf die Tasten ein. Zuerst am Klavier. Dann am Computer. Höre die CD aus dem zweiten Japanpaket. Zollbefreit angekommen wie das erste. Stockhausen. In meinem Zimmer. Das mit Büchern überfüllt ist, die mich am ersten Tag totschlagen wollten. In meinem Zimmer. Das unordentlich ist wie noch nie. In meinem Leben. In meinem Zimmer. Das sich gegen das Chaos meiner Gedanken nicht wehren kann. Hier tropft Stockhausen wie Balsam. Wie zäher, leicht bitterer Buchweizenhonig aus der Mazowszeebene. Aus den Lautsprechern. Über Bücherrücken. Und Aktenordnerkanten. Erinnerungen kommen hoch. An Appartement 2108. Ninomiya-House. Dezentes beige. Aseptisch wie ein Operationssaal. Großzügig in seiner Leere. Funktionsbereit. Und offen für alles, was von innen kam. Geschlossen für alles, was von außen kam. Es war unmöglich, Stockhausen dort zu hören. 
Mittwoch, April 20, 2005
  Salzmonopol .

Zwei Tage am Schreibtisch. Heute mit Handschuhen. Der Versuch, einen Text von 24 Seiten auf 15 herabzusortieren. Streiche das „Polnische“ weg, richtete mir die Herausgeberin aus. Auf der T-Net-Box. Ich fuhr gerade jenseits der Oder spazieren. Aber ich liebe Konstruktionen. Schnitte. Spiralwindungen. Sage ich sinnlos in den leeren Raum hinein.

Die letzte Nacht war kalt. Und die nächste wird kälter. Auch den öffentlichen Frühling am Engelbecken besetzen nun die Medien. Wie die guten Stuben seit der Erfindung des Schwarzweißfernsehens. Ich öffnete endlich das zweite Japanpaket. Obenauf lag die weiße Jogginghose des Professors. Auch das hatte ich vergessen. Dass in Japan alles vorwiegend farblos gehalten wird. Aber darunter die Überraschung. Gut gepolsterte Shamisen-CDs. Hatte ich vermisst. Kommt mir in den Sinn. Und W. verdächtigt, sie nach Stralsund enteignet zu haben. Stockhausen. 12 Melodien der Sternzeichen. Eine explodierende Begierde. Musik! Dynamit für den leeren Raum. Unter den „research-(dieses Wort ist unausstehlich)-papers“, versunken in der Tiefe der Nachhaltigkeit – die Chinageschenke. Von Professors bis heute nicht genehmigter Auslandsreise. Tsukuba – Peking und zurück in drei Tagen. Hast du mir was mitgebracht? Erik Satie. Claude Debussy. Johann Sebastian Bach. Leichte Klavierstücke und Tänze. Licensed Chinese Edition.

Ich verliere mich am Schreibtisch. Zurück bleibt ein grüner Wollschal. Der Schuster sagte, jeder Mensch laufe seine Schuhe ungleich ab. Und Frieda meldet prompt aus Menznau, ich sei Linksfüßerin und würde mich in der Wüste zu Tode irren. Ich habe sämtliche Schuhpaare auf den Kopf gestellt. Auf dem Balkon. Von Angesicht zu Angesicht. Mit dem Vergrößerungsglas die Sohlen gemessen. Meiner Lebtag brauchte ich noch keine Absatzbar. Und je mehr ich über die Energieferse nachdenke, desto schlechter wird mein Gang. Desto steifer mein Genick. Desto schmerzhafter mein Atem. Morgen früh laufe ich zum Hausarzt und lasse mir das Bein amputieren.

Heute meine erste Audienz. Im Containercafé am Engelbecken. Ist geplatzt. Wie das Polnische in meinem aufgeblähten Text. SAT.1. dreht den zweiten Block einer neuen Serie. Besetzt das Engelbecken und das Café. Stellt Parkverbotsschilder auf. Scheinwerfer. Kunstschirme. Genehmigt von den zuständigen Behörden. Bis in den kalten Abend hinein. Bald werden wir in aller Stuben sein.

Zu Hause ziehe ich die Basellandschaftliche Zeitung von gestern aus dem Briefkasten. Die Schlagzeile „Der erste schwarze Rauch“ ist hin wie der Dienstag. Und das Salzmonopol hinterlistig wie ein Aprilscherz. Von 26 Schweizer Kantonen unterliegen 25 der bundesrätlich genehmigten Salzverkaufsordnung und werden von den Schweizerischen Rheinsalinen mit allen Salzprodukten versorgt. Dürfen kein Straßenstreusalz im Ausland kaufen. Obwohl es um die Hälfte billiger wäre. Obwohl es letzten Winter zu Streusalzengpässen kam. Die Verkehrssicherheit für den morgendlichen Berufsverkehr blieb immer gewährleistet. Ausnahme ist der Kanton Waadt. Er baut in Bex selber Salz ab. 
Montag, April 18, 2005
  Heimspiel .

Und dann ist nichts mehr ungewöhnlich.

Pünktlich um sieben Uhr in der Früh dröhnt der Aufsitzmäher durch unsere bereits ergrünte Anlage zwischen den Orwellhäusern. Erst um halb acht beginnen lautlose Hände ihre Arbeit. Säubern Blumenrabatte. Harken Sand auf dem Spielplatz. Ohne Motoren. Ohne Benzin. Ich bin aufgewacht in der Wohnung beim Erzengel.

Nach drei Tagen in Polen und zwei Tagen in Stralsund. Geschieht alles in umgekehrter Reihenfolge. Ankommen. Auspacken. Gähnende Leere im Kühlschrank. Alte Zeitungen im Briefkasten. Ein Umschlag von Aoki-san mit Fotos von Toyama. Wir im dichten Schneetreiben im Stadtpark. Wir zerzaust am Japanischen Meer. Wir mit Regenschirmen. Mal aufgespannt über den Köpfen. Mal schlank an der Seite. Mich fröstelt. Das Außenthermometer zeigt 22° an. Und eine himmelblaue Benachrichtigungskarte. Ein Paket wurde bei Nachbarn im zehnten Stock abgegeben. Wahrscheinlich der Rest unseres Japankrams. Zwanzig Kilo Papier sind bereits zollbefreit angekommen. Auf zehn weitere warten wir noch. Was in Tsukuba so absolut wichtig erschien, steht hier Tage, Wochen dumm im Wohnzimmer herum. Versperrt den Weg zur Balkontür. Den ersten Schritt auf den Engel zu. Ich bin wieder da.

Zwischen Polen und mir gibt es keine Grenze. Ich brachte ein Kilo Kleehonig mit und fünf Kilo Bücher. Sowie Fragen über Fragen. Ich blättere im Historischen Atlas. Warum besitzt das Museum Mittelpommerns in Słupsk die polenweit größte Sammlung von Gemälden, Skizzen und Zeichnungen von Witkacy? Warum trägt die angeblich restaurierte Predigerkanzel aus der Renaissance in der Stadtkirche von Nowogard die Aufschrift „Anno Domini 1929“? Warum gibt es in Słupsk ein Sienkiewicz-Denkmal? Weil auf diesem Sockel früher Bismarck stand, erklärte mir einer der Studenten. Sozusagen als Platzhalter. Bis die Gegend polonisiert und ihre Kirchen katholisiert wurden. Weder Sienkiewicz noch Witkacy hatten irgend etwas mit Słupsk zu tun. Polnische Lokalgrößen gab es nicht. Der Wodka verblieb bei W. in Stralsund, ebenso ein Kilo Lindenhonig und ein hölzerner Fleischklopfer. Unser schneller Abschied an der Bushaltestelle Lilienthalstraße. Bereits wieder Gewohnheit geworden. Straßenkantenküsse.

Die linke Ferse brennt, seit ich vor einem Monat in Tegel gelandet bin. Zuviel Hornhaut, dachte ich und rubbelte mit Bimsstein in der Badewanne. Zu dünne Haut, überlegte ich dann und rieb morgens Sanddornsalbe, abends Vaseline ein. Zuviel Chi, meinte W. in Stettin. Falsch verteilte Energien. Heute sehe ich, dass die Sohle am linken Schuh hinten ganz abgetreten ist. Das gelbe Oberleder schon angegriffen. Von der Straße. Zerfetzt. Ich stelle die roten Lammfellschuhe, die ich in Japan getragen hatte, auf den Kopf. Studiere Sohlen und Absätze. Unauffällig gleichmäßiges Winterprofil. Kaum einen Millimeter abgelaufen. Verdutzt stecke ich die gelben Schuhe in einen Papierbeutel und trage sie zum Schuster. Ich bin weit herumgekommen in den letzten Tagen, erkläre ich im Vorbeigehen dem Engel auf dem Glockenturm.

Im Zug las ich Die Zeit. Zeitläufte der letzten Ausgaben. Deutschland vor 60 Jahren. Ich fuhr durch Greifswald, Anklam, Pasewalk, Prenzlau, Eberswalde, Bernau nach Berlin Lichtenberg. Jenseits der Oder, hatten wir in Polen gehört, zerstörte die Rote Armee nach der Befreiung alle historischen Stadtkerne an der Küste. Mit Ausnahme von Darłowo. Wo ich auch zu Hause bin. Dort gibt es die beste Pizza Polens und das beste Frühstück. Diesseits der Oder, lese ich in den Zeitläuften im fahrenden IC, zerbombte die deutsche Luftwaffe Städte, die sich bereits ergeben hatten. Zum Beispiel Anklam. Oder Eberswalde. Gezielt wurden Geschäfte bombardiert. Deutsche Präzisionsarbeit. Ein prall gefülltes Heeresverpflegungslager. Eine Mühle mit 45 000 Tonnen Getreidevorräten. Nein, es gibt keine Grenze. Des Infernos. Und nicht zwischen Polen und mir.

Kurz vor sieben, versprach der Schuster, könnte ich die Schuhe wieder abholen. 
Dienstag, April 12, 2005
  Spargelzeit .

Und dann fängt das Leben wieder an.
Am Morgen. Der hastige Blick in den Kühlschrank. Was verderben könnte. Was gegessen, getrunken werden muss. Was eingefroren werden kann. Ein Pfund Spargeln! W. hat eingekauft und vorgekocht. Ich habe klaglos meine täglichen Rationen aufgewärmt. Und nun liegt in der Gemüseschublade ein Bund frischer Spargeln! Wie ein Kuckucksei. Ich koche mir Spargeln zu Mittag, denn am Abend bin ich bereits nicht mehr da. Und Gnocchi dazu. Mag ungewöhnlich sein, die müssen aber auch weg. Mit Butter. Reiner Butter. Wasche das Geschirr. Trage den Müll in den Himmel. Verabschiede mich auf dem Balkon vom Erzengel.

Unser Leben.
Ich bin verabredet mit dem Professor um 20:55 Uhr in Stettin am Bahnhof. Begleite ihn und eine Handvoll Studenten auf eine kurze Exkursion an die polnische Ostseeküste. Ich wollte nicht mitfahren. Nicht jetzt. Kaum angekommen. Nicht in dieser papstlosen Zeit. Nach Kołobrzeg, Darłowo, Słupsk. Polen. Ich gab meinen Widerstand schnell auf. Das Leben ist zu kurz. Um auch nur eine Gelegenheit auszulassen, nach Polen zu fahren.

Und dann verbringe ich das Wochenende mit W. in Stralsund. Denn von Stettin aus wieder getrennter Wege zu gehen, wäre geschmacklos. 
Montag, April 11, 2005
  Der neue Mond .

Ich sass den ganzen Tag an meinem Schreibtisch und arbeitete. Verbrachte nur vormittags eine kleine Dreiviertelstunde am Telefon. Gratulierte Mutter in Liestal ausführlich zum 79. Geburtstag. Am Abend fuhr ich mit dem Fahrrad an die Akazienstraße. Schwitzte die Kreuzbergstraße hoch. Das Herz polterte und ich ließ es lachend gewähren. Kehrte in der Dunkelheit zurück. Das Licht am Fahrrad funktioniert. Am Himmel steht der neue Mond. Seit höchstens gestern. Auf der Oranienstraße machte ich noch 14 Kopien. Und nahm die Abkürzung durchs Engelbecken. Nach Hause. Das Café ist ein echter Lichtblick in unserem düsteren Osten.
Allein habe ich keine Lust, mich da hin zu setzen. Wer will, kann sich hier mit mir verabreden. Ab nächster Woche. 
Sonntag, April 10, 2005
  „Daremo shiranai“ .

Die ersten Schritte zurück. In eine unauffällige Existenz. Ich war beim Frisör. Trank Latte Macchiato im Café Bilderbuch. Kaufte die erste Tageszeitung. Wir gingen ins Kino.

Irgendwann kommt immer der Tag, an dem die Haare einfach unausstehlich sind. Und das Bedürfnis, sie zu schneiden, dringlich wird. Unaufschiebbar. Diesmal trat als beschleunigendes Element noch mein Tsukubarot hinzu. Es brannte unsäglich auf dem Schädel. Einmal mehr schwöre ich mir, die Haare nie mehr zu färben. Und sie so lange immer wieder kurz zu schneiden, bis ich das letzte japanische Feuer los bin. Nur etwas steht mir im Moment im Wege: ich habe keine Frisöse mehr. Sie ist aus Berlin weggezogen und richtet Köpfe auf der Mecklenburger Seenplatte. In Bollewick bei Röbel an der Müritz. In der größten Feldsteinscheune Deutschlands. Obwohl ich ihre Adresse (Dudel 1) habe, komme ich da nie hin. Nicht an einem Mittwochvormittag. Wirklich schwierig im Leben einer Frau ist tatsächlich nur, eine neue Frisöse zu finden. Gestärkt durch Tai Chi, Latte Macchiato und Tratsch mit L. über Gott, den Papst und die Welt, hole ich mir am Lausitzer Platz einen Termin. „So bald wie möglich“ sage ich zu dem Mann, der mit seifigen Fingern durch die Haare einer vor ihm liegenden Frau fährt und nickt, seine Kollegin hätte am Nachmittag Zeit.

Das Kino war W.‘s Idee. Ich spiele Schicksal und schlage den Tagesspiegel auf. Wir wissen nicht, was läuft. Wir sind aus dem mainstream gekippt. Es ist nach Ostern. Und wir haben in diesem Jahr noch keinen Film gesehen! Aus der Zeitung spingt ein lachender japanischer Junge. Yuya Yagira. Er sitzt als Akira im Film „Daremo shiranai“ (Nobody Knows) auf dem Karussell. Und ist der Älteste von vier allein gelassenen Geschwistern in Tokyo. Wir schauen uns also Hirokazu Kore-edas vierten Spielfilm an. Zweieinhalb Stunden Japan. Bereits nach einer halben Stunde trommelt W. entnervt auf die gepolsterte Armlehne. Niemand hört es, aber ich sehe es. Die unerträglich piepsende Stimme der Mutter verschwindet irgendwann ganz aus dem Film. Zum Glück für die Zuschauer. Zum Unglück für die fictionbildenden Figuren. Ihre Mutter kommt nicht wieder. Das einzige Vertrauen stiftende Geräusch, das der waschenden Waschmaschine auf dem Balkon, verschwindet auch bald. Die einzige winzige Freiheit für Kyoko, die Zweitälteste. Sie darf auf dem Balkon Wäsche aufhängen. Der Älteste, Akira darf auf die Straße gehen. Die beiden Kleinen müssen sich in der Wohnung verstecken und stillhalten. Dann wird der Strom abgestellt. Und das Wasser abgestellt. Die Wohnung müllt zu, und die Kinder erobern sich die aseptische Straße, den klinisch reinen öffentlichen Raum, den staubfreien Park. Dirigiert von Akira, dem ältesten Sohn und Herrn der Schuhe. Nur wer Schuhe besitzt, kann ausbrechen. Nur wer den Schuhschrank öffnet, besitzt Macht. Nichts überrascht in diesem Film. Es ist alles so, wie wir es kennen. Es passiert nichts. Die Kleinste, Yuki überlebt nicht, sie fällt in der Wohnung vom Stuhl und bricht sich das Genick. Sterben muss in einem japanischen Film das Mädchen. Das ist normal. Was der Film uns sagen will, verstehen wir nicht. Auch das ist normal. Er strapaziert unsere Geduld. Unnötigerweise. Findet kein Ende. Ich habe mich gelangweilt. Zum ersten Mal seit vierunddreissig Jahren. Obwohl außer mir niemand in der Lage ist, das Geräusch der Waschmaschine herauszuhören und seinen Sinn zu verstehen: das kurze Röhren eines brünstigen Hirsches. Die Wäsche wird horizontal und erbarmungslos in der Trommel herumgeschleudert. Sie schwimmt in der scharfen Seifenlauge. Mal nach links, mal nach rechts. Die Struktur aller Naturfasern wird ersäuft. Und zerschlagen. Unsere T-Shirts, Unterhosen und Kniestrümpfe haben sich in zwei Monaten in Luft aufgelöst.

Wir sitzen im Max&Moritz, bis man uns rauswirft. Die Stühle auf die Tische stapelt. Wir können uns noch lange nicht wieder beruhigen. W. dämpft mitten in der Nacht chinesische Teigtaschen. Ihn packt immer der Hunger, wenn ich kotzen könnte. Japan! 
Samstag, April 09, 2005
  Das Engelbecken .

Als ich im Frühsommer 1999 auf der nach historischen Plänen wieder erstandenen Grünanlage unter dem herausgeputzten Erzengel Michael stand und unsere neue Wohnung zum ersten Mal von außen betrachtete, zeigte mir W. durch einen Spalt im Bauzaun den grasüberwachsenen Hügel in der Mitte des Platzes.
„Das ist das Engelbecken“, sagte er.
Ich hatte die Mauer im Kopf, nun auch ich. Zehn Jahre, nachdem sie gefallen war. Wie ein Zinnsoldat auf dem Schlachtfeld. Ich hatte ein geteiltes Gesichts- und Gedankenfeld. Und verstand die Welt nicht mehr.
„Das Engelbecken“, fuhr W. ungerührt fort: „das ehemalige Kehrbecken des Luisenstädtischen Kanals. Das Hafenbecken. Es gab Schiffe, die hier etwas anzuliefern oder abzutransportieren hatten. Baumaterial. Märkischen Sand. Rüdersdorfer Kalkstein. Berlin ist aus dem Kahn erbaut worden. Aber auch Fäkalien. Lebensmittel. Kohle. Material für die Kattunfabriken, Messingwerke, Backsteinbrennereien und die erste Neusilberfabrik Berlins.“

Und dann war eines Tages die Welt hier zu Ende. Und niemand brauchte sie mehr zu verstehen. Jahrzehnte lag das Engelbecken als grüner Hügel im Todesstreifen. Aufgefüllt mit Schutt und Bombentrümmern. Wohnungsresten, Lebensresten von Hunderttausenden. Auch die Buchbinderei von W.‘s Großvater, das Zuhause von blonden Zwillingsschwestern, meiner Schwiegermutter Erika und Tante Lisa lag hier begraben.

Noch früher war alles noch anders. Die Oberbaudeputation des preußischen Königs ließ 1848 nach Plänen von Lenné den Luisenstädtischen Kanal als Wasserstraße zwischen Landwehrkanal und Spree ausheben. Er sollte das feuchte Köpenicker Feld entwässern, das Wasser aus den Rinnsteinen ableiten und die Entwicklung des Gewerbes fördern. Vom Urbanhafen wurde in gerader Linie eine Schneise bis zum Engelbecken geschlagen, die dann in einem eleganten Bogen an der Schillingbrücke in die obere Spree führte. Der 20 Meter breite und nur 2 Meter tiefe Kanal war schwer schiffbar. Nur für die Größe des sogenannten Finowkahnes angelegt, erforderte der 90-Grad-Knick am Engelbecken großes Manövriergeschick. Ungünstige Strömungsverhältnisse und die Abwässer der Gegend ließen den Kanal besonders im Sommer fürchterlich zum Himmel stinken. Durch die Entwicklung der Eisenbahn verlor er zunehmend an Bedeutung. Die Reichswasserstraßenverwaltung beschloss schließlich, den Kanal als Wasserstraße aufzugeben. Er wurde 1926 mit dem Tunnelaushub der U-Bahnlinie Neukölln-Gesundbrunnen zugeschüttet. Für die „in aufreibender Tagesarbeit abgehetzten Menschen“ entwarf der damalige Gartendirektor der Stadt Berlin, Erwin Barth, Sondergärten. Dahliengarten, Enziangarten, Narzissengarten, Rosengarten. Immergrüner Garten. Indischer Garten mit weiblicher Bugghafigur. Fliedergarten. Das Engelbecken selbst blieb als Wasserbecken erhalten, hier sollte eine öffentliche Badeanstalt entstehen. Dagegen wehrten sich aber die Katholiken der Michaelgemeinde erbittert. Sie wollten am Sonntag vor den Toren ihres Gotteshauses keine halbnackten Menschenkinder sehen.

Im Herbst, nachdem wir in die neue Wohnung eingezogen waren, transportierten Lastwagen aus Rüdersdorf hektisch alles ab, was das Wasserbecken vor einem halben Jahrhundert zum Hügel hatte werden lassen. Und was vor zehn Jahren noch obenauf geschüttet wurde. Wendereste. Ich beobachtete Wochenlang Baggerschaufeln, die eine lärmende Maschine fütterten, welche Kriegstrümmer und Mauerreste zu märkischem Sand zermalmte. Dieser rieselte auf die Ladeflächen geduldig wartender Lastwagen, die ihn pflichtschuldigst in den Rüdersdorfer Kalksteinbruch zurückbrachten. Die alten Kanalmauern kamen zum Vorschein. Fast unzerstört. Weganlagen. Plätze für Parkbänke. Das Grünflächenamt wollte das entrümpelte Engelbecken in eine pflegeleichte Liegewiese verwandeln. Aber die Natur wehrte sich gegen diese unnötige Simplifizierung. Von einem gewissen Tag im Dezember drang das Grundwasser hoch und ließ sich nicht mehr vertreiben. Die Arbeiter bekamen nasse Füße und trugen Gummistiefel. Das wieder erstandene Wasserbecken wurde behelfsmäßig umzäunt und winterfest gemacht. Die Lastwagen, die bislang immer leer von Rüdersdorf angefahren kamen, kippten nun frische Muttererde und Kieselsteine rund um das Becken. Die Frühjahrssonne würde hier einer tropischen Vegetation auf die Beine helfen.

Seither sind Jahre vergangen. Immer wieder müssen Schmierereien von den alten Kanalmauern entfernt werden. Die Kletterpflanzen überwuchern sie nur zögernd. An der Nordseite des Engelbeckens stehen bis heute Gitterzäune. Die Kanalmauer zur Kirche und zum Erzengel hin war zerfallen und ist nicht wieder rekonstruiert worden. Auch das frühere Kinderplanschbecken nicht. Dem Bezirksamt Mitte fehlen dazu die nötigen Mittel. Bevor wir nach Japan flogen, holzten plötzlich junge Männer das hochaufgeschossene Unkraut an der Nordmauer ab. Schaufelten die Reste von Trümmern weg. Eines Tages im November standen drei Baucontainer vor der zerfallenen Mauer und eine Nachbarin erzählte, darin würde ein Café entstehen. Wir runzelten misstrauisch die Stirn. Packten unsere Koffer. Bestellten ein Taxi. Und fuhren zum Flughafen Tegel.

Das Café am Engelbecken ist mittlerweile eröffnet. Die Baucontainer sind in der Farbe der Backsteinmauern gestrichen. Rostrot. Und nicht wieder zu erkennen. Über dem zerfallenen ehemaligen Planschbecken liegt eine massive Holzbühne. Darauf sitzen Spaziergänger, Familien, Einzelgänger, Überläufer aus Kreuzberg mit oder ohne Kinder am Nachmittag am Wasser in der Sonne. Stolpersichere Wege sind von beiden Seiten angelegt und in der Nacht beleuchtet. Eine Initiative von mutigen Kunststudenten. Mutmaßen wir. Als wir zum ersten Mal, noch vor Ostern, noch mit aseptischen japanischen Innenräumen auf der Seele, dort am Abend ein Glas Wein trinken. 
Donnerstag, April 07, 2005
  Sprache .

Die Sprache widersetzt sich.
Die Wörter. Die Sätze. Die Fragen. Die Antworten.

Am Ostermontag saßen wir in Altefähr an der kalten Sonne am Sund. Der Raps blüht noch lange nicht. Unser erster Fahrradausflug. Am ersten nicht vernebelten Tag. Nie wurde ich in Japan so feindselig angestarrt, wie am Ostersamstag beim Einkaufen in Stralsund. Nur weil ich andere Schuhe trage. Behaupte ich trotzig. Und andere Fragen stelle. Wo finde ich denn, bitte, frischen Meerrettich? Der Wind ist scharf wie ein Samuraischwert. Was würden wir anders machen, will W. plötzlich wissen, wenn wir nochmals nach Japan führen?

Ich träumte von der deutschen Sprache. Sie war ein Ding. Ein unförmiger Klotz. Ein klirrend kaltes Gebilde. Mit harten Kanten. Spitzen Ecken. Ungehobelten Seiten. Schmucklos. Farblos. Wie unsere japanische Wohnungseinrichtung: dezent hellbeige. Undurchsichtig und doch verletzend. Ich erwachte mit Schmerzen in allen Gliedern und erblickte Schimmel an der Decke. An der Wetterseite. Das feuchte Klima am Wasser. Der kalte Winter und kein Mensch. Der hier wohnte. Schlief. Heizte. Lüftete. Beim Putzen schlagen mir die Nachrichtenschleifen des norddeutschen Inforadios um die Ohren. Rund um die Uhr. Samstag und Sonntag. Die farblose Präzision der deutschen Sprache. Mit Ausnahme von zehn Minuten täglich. An der Ostsee von 19:50 Uhr bis 20:00 Uhr. Der Ohrenbär. Radiogeschichten für kleine Leute. Unser infantiles Ritual. Das nichts mit Japan zu tun hat.

Nochmals Japan? Mit all den eingesammelten Vorbehalten und Ängsten? Routiniert im 100-Yen-Shop einkaufen, bei Kasumi und am Gemüsestand vor dem Institut? Sich klanglos in den Linksverkehr einreihen? Ich würde Japanisch lernen müssen. Behaupte ich trotzig. Würde mir einen guten Lehrer in Berlin suchen. Einen Mann! Es hieß, man höre den Ausländern an, welchen Geschlechts ihre Japanischlehrer waren. Männer, die sich die Sprache von einer Frau beibringen lassen, geraten schnell in den Verdacht, schwul zu sein. Sie sprechen weibisch.

In Washington DC erwartete mich der Urgroßneffe meiner Romanheldin. Er sprach einen lupenreinen Berner Dialekt. Ich stolperte über mein vergessenes Baselbieterdeutsch. Wie die Boeing durch die Luftturbulenzen über dem Kontinent. Er erzählte, dass er mit 14 von Konolfingen nach New Holland versetzt wurde. Dass es schwierig war. In der Schule. Am Anfang verstand er gar nichts. Dass es aber noch viel schwieriger wurde. Als er nach einem halben Jahr zu verstehen begann.

Nichts würden wir anders machen. Sage ich und fahre nach Berlin zurück. In der U-Bahn, auf den Bahnhöfen, unter der Anzeige, wann der nächste Zug einfährt, die Endlosschleife: „Die BVG trauert um Andreas von Arnim“. Wie das norddeutsche Präzisionsgeschütz. Rund um die Uhr. Werktag und Feiertag. Wer immer dieser von Arnim war, die BVG ist kein Clemens von Brentano.

In der Wohnung beim Erzengel stirbt der Papst. Schon drei Tage vor seinem Tod wird nur noch im Präteritum über ihn gesprochen. Ich höre den Satz, er hätte als junger Mann viel Sport getrieben. Deshalb ziehe sich nun sein Sterben hin. Ich schalte um auf BBC.

Die Sprache widersetzt sich. Sogar der Stummheit. 
Dienstag, April 05, 2005
  Wohnung .

Die Wohnung widersetzt sich.

Ich betrat sie durch die Eingangstür und die Bücher schlugen mich fast auf der Stelle tot. Broch. Platon. Brecht ... Ich ließ meine Laptoptasche fallen und suchte Weite. Auf dem Küchentisch wartete eine langstielige rote Rose. Und eine Umarmung von W. Willkommen in Berlin. Ich brauchte zwei Stunden, um einen Wasserhahn aufzudrehen. Den Feinstaub von den Fingern zu reiben. Ich brauchte Tage, um den Koffer auszupacken. Das Klavierzimmer war wochenlang eine Gepäckhalde. Die erste Waschgang wollte und wollte zu keinem Ende kommen. Die Waschmaschine in Tsukuba erledigte alles in sauberen 40 Minuten, manchmal sogar in 28. Sie wusch zwischen zehn und drei Minuten. Schleuderte zwischen zehn Minuten und sechzig Sekunden. Dazwischen zog sie Wasser. Pumpte es wieder ab. Pustete zum Schluss ihr fröhliches Liedchen durch das aseptische Appartement. Unsere Wäsche ist in den zwei japanischen Wintermonaten in die Breite gewachsen. Wie eine schwangere Auster.

Stundenlang trug ich den Laptop von einem Zimmer ins andere. Jeden Tag aufs Neue. Bis ihn das Stampfen der Trojanischen Pferdeherde TR/Lowzones.A durchpflügte. Die Strafe für mein einäugiges Pferd. Seither benütze ich wieder die alten PCs. Bequeme mich zu ihren fest verkabelten Ecken. Bewundere ihre Monstrosität. Sie sind immun gegen modernen Pferdemist. Wochenlang mied ich meinen Schreibtisch. Und den fast Meterhohen Poststapel. Ich brauchte zwei schlaflose Vollmondnächte, um jeden Umschlag aufzureißen. Und fand eine einzige wichtige Nachricht. Alles andere landete im Papierkorb. Meine Warschauer Schlummermutter, Pani Antonina war gestorben. Die Strafe für meinen Zungenbrechertisch.

Ich fing an aufzuräumen. Panisch. Ich wollte alles wegwerfen. Die Tische. Die Stühle. Die Tassen. Die Teller. Die Wände. Die Decken. Beton. Kunststoff. Holzimitat. Ach, das gibt es auch noch. Schoss es mir an den unglaublichsten Stellen durch den Kopf. Brennend heiß. Im Bad. Eiskalt. Hinter dem Kühlschrank. Ekelerregend. In der Sockenschublade. Was ich in den letzten drei Monaten vergessen habe, brauche ich nicht. Ich wollte die Wohnung auflösen. Aus dem Grundbuch reißen. Zum Kuckuck wünschen. Um endlich wieder Luft zu bekommen, trug ich unsere Wintermäntel in die Chemische Reinigung. Räumte den Balkon auf. Kippte die letztjährige Blumenerde in den Müllschlucker. Und alle angeschlagenen Tontöpfe. Gläsernen Untersetzer. Kunterbunten Keramikübertöpfe. Fuhr nach Stralsund. Putzte Fenster und sortierte Hemden. Nach dem Tod eines Menschen soll man sein Leben und seine Kleiderschränke ordnen. Ich kam zurück und beschloss, in diesem Sommer nichts anzupflanzen. Auf dem Balkon beim Erzengel.

Die Wohnung widersetzt sich. Weiter. 
  Schlaf .

Der Schlaf widersetzt sich.

Stundenlang. Wochenlang. Tagelang. Ich erwache um drei Uhr in der Nacht. Sehe durch die nur halb zugezogenen Seidenvorhänge die dunklen Fenster der Nachbarplattenbauten. Wache Nächte versetzen mich in die DDR. Benommene Nachmittage verbringe ich auf dem Balkon im Angesicht von Schinkels kriegszerstörter Backsteinarchitektur. Vor sechs Uhr kann ich nicht wieder einschlafen. Zwei Nächte lang höre ich W. schnarchen. Dann muss er zu seinem Semester nach Stralsund. Und ich liege die heller werdenden Stunden allein. Mit offenem Mund. Im Bett. Der Mond nimmt zu am Himmel. Das Herz rast im Innern. Magen, Leber, Niere, Galle, Blase, Därme fliehen den Aufstand in den Adern. Treten aus dem Körper heraus. Werden durchsichtig. Und verschwinden glucksend. Im Atlantik. Im Pazifik. Im Japanischen Meer. Die Kopfhaut löst sich in Fluggeräuschen auf. Jeder Gedanke erzeugt seinen eigenen Kondensstreifen.

Wie kompakt war dagegen das Ankommen auf Maui. Nachdem wir Januar und Februar in Japan verbracht. Ich den sonnigsten Winter meines Lebens erlebt. Wir die Datumsgrenze überflogen hatten. Empfing uns eine Insel im Pazifik. Sonntag vormittag. Kahului. Tradewinde. Das älteste Kaufhaus brannte. Ich versank am Abend blitzschnell. In einem bodenlosen Schlaf. Es war schon hell, als mich ein gräßlicher Lärm weckte. Hubschraubergeknatter. Ich suchte es zu verscheuchen. Wie eine lästige Fliege. Meine Hand traf W.‘s Schulter. Ich fragte: „Wo sind wir?“ Er antwortete: „Still on Planet Earth.“ Und schlief seelenruhig weiter.

Berlin. Gleich am ersten Morgen fuhr ich nach Schöneberg zum Tai Chi. Schwitzte bei der geringsten Anstrengung. Schwindel und Fremdheit. Kein Gefühl in den Fersen. In den Ellbogen. Tigermaul. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern. M. bot mir für den zweiten Morgen eine Einzelstunde an. Ich nahm dankbar an. Hoffte, die Bewegungen würden mich zentrieren. Wie eine Tastenkombination die Überschrift über einem Word-Dokument. Der Fahrstuhl war defekt. Ich stieg schnaufend in den fünften Stock. Das Herz gebärdete sich wild in der darauffolgenden Nacht. Ich war allein. Seit drei Monaten zum ersten Mal allein. In der Nacht. In meiner Wohnung. Beim Erzengel. Ich starrte in den Himmel über der DDR. Die zur Unzeit wachen Sinne schärfen das Gewissen. Eine moralische Kategorie, die Asiaten ganz abgeht. Das Herz poltert. Wie beim Aufstieg aus dem Krater. Aus der eisenerzschweren Vulkankuhle. Unter der glühenden Nachmittagssonne. Ich hätte sterben können. Begreife ich jetzt. In der Nacht. Wach. Allein. Zurückgekehrt an die polizeiliche Meldeadresse. In eine Aufenthaltsordnung. Reglos. Die Erinnerung bringt das Blut ins Wallen. Ich hatte Vergiftungserscheinungen. Tagelang einen metallischen Geschmack auf der Zunge. Verbrennungsflecken. Kopfschmerzen. Husten. Der Atem blieb mit mir stehen, sobald ich innehielt. Um nach Luft zu schnappen. Und einen Schluck Wasser zu trinken. Auf dem Weg aus dem Krater hinaus. Zurück. Hinauf. In die Außenwelt. Auf fast 3000 Metern über dem Stillen Ozean. Am zweiten Tag auf der Insel. Mit Japan auf der Lunge. Und einem Zeitloch im Kopf.

Der Schlaf widersetzt sich. Noch lange. 
Sonntag, April 03, 2005
  Die Luisenstadt .

Luise von Mecklenburg-Strelitz heiratete den späteren König Friedrich Wilhelm III. aus reiner Liebe. Sie war eine gute Königin und beim Volk beliebt wegen ihrer Wohltätigkeit. 1802 erhielt das ländliche Gebiet der Köpenicker Vorstadt auf Bitten seiner Bewohner den Namen „Luisenstadt“. Die Luisenstadt entwickelte sich im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts zu einem blühenden Zentrum der Handwerker, die in spezialisierten Werkstätten und kleinen Fabriken Lampen, Metallwaren (von Armaturen für Wasser und Dampf bis hin zu Panzerschränken), Motoren (u.a. den Schlangenrohrkessel), Landwirtschaftsmaschinen, Schreibmaschinen, Glas, Kristall, Porzellan, Konfektion, Nähmaschinen, Pelze, Leder- und Posamentierwaren, Elektroartikel, Schallplatten, Musikinstrumente (von der einfachen Blockflöte bis zum berühmten Bechstein-Flügel), Spielzeug, Papierwaren aber auch Kunsteis, Bettfedern und die Akkordsirene herstellten. In der Mitte des Jahrhunderts wurde der Luisenstädtische Kanal nach Plänen von Lenné als Wasserstraße zwischen Landwehrkanal und Spree gebaut. Er zog sich vom Urbahnhafen in gerader Linie bis zum Engelbecken und im Bogen bis zur Schillingbrücke an der Spree. Friedrich Wilhelm IV., der kluge Sohn der schönen Königin Luise, gab schließlich auch die Erlaubnis zum Bau einer zweiten katholischen Kirche in Berlin, der Michaelkirche. Sie sollte für die vielen Soldaten aus dem Rheinland und die Zuwanderer aus Schlesien unweit des Diakonissenhauses Bethanien, in der Sichtachse des Luisenstädtischen Kanals am Rande des großen Wasserbeckens nach dem Vorbild der venezianischen San Salvatore errichtet werden. Die Fertigstellung des katholischen Gotteshauses erlebte der protestantische König leider nicht mehr, aber seinem Wunsch gemäß wurde es dem Erzengel Michael geweiht – dem Patron aller in der Luisenstadt arbeitenden Handwerker.

Die Teilung der Luisenstadt fand lange vor dem Bau der Berliner Mauer statt. 1920 wurde die neue Stadtgemeinde Berlin gegründet, der Fläche nach die damals größte Stadt der Welt. Ihre Einwohnerzahl nur von New York und London übertroffen. Durch die Neuaufteilung der Bezirke verschwand die Luisenstadt vom Stadtplan, dem neu erschaffenen Bezirk Hallesches Tor, 1921 in Kreuzberg umgetauft, wurde ihr südlicher und östlicher Teil zugeordnet, dem Bezirk Mitte ihr kleinerer, nördlicher Teil.

Am 3. Februar 1945 warfen 937 amerikanische Bomber am hellen Vormittag während anderthalb Stunden ihre todbringenden Ladungen über der auf dem Stadtplan längst ausradierten Luisenstadt ab, über 100 000 Menschen wurden obdachlos, unter ihnen meine heute weißhaarige Schwiegermutter Erika und ihre Zwillingsschwester Elisabeth. Nur der Engel auf dem Kirchturm überlebte unversehrt. Obwohl er seine Pflicht nicht getan hatte. Die Trümmer wurden nach Kriegsende abgetragen und in das offene Becken vor der Kirche, unter die schützend ausgebreiteten Flügel und Arme und Hände des Erzengels Michael gekippt. Die Aufteilung der Stadt unter den vier Mächtigen der Welt besiegelte das Schicksal der Luisenstadt: ihr Kreuzberger Teil blieb im Westen, das Engelbecken im Osten.

Aus dem Trümmerhaufen wucherte Gras und die VoPos konnten schließlich ihren groben Wachturm auf eine wildblühende Bergwiese bauen. Ein strategisch hervorragender Posten. 
  Die Rückkehr .

Niemand konnte mir sagen, wie das ist. Zurückzukehren. Nach zwei Monaten in Japan und einem halben Monat in den Vereinigten Staaten. Zurückzukehren. In ein Land. In eine Stadt. An eine Straße.
Zurückzufinden zu meiner Meldeadresse. In meinen Aufenthaltstitel.
Ich besitze eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Und eine Wohnung. In diesem Land.

Während des Fluges von Frankfurt nach Berlin, nach einer traumlosen Nacht über dem Atlantik, stieg als erstes das hundertjährige Liegnitz über die Wolkendecke. Ich besitze ein Klavier! Ich hatte in fast drei Monaten nicht einen Gedanken daran verloren. Meine Finger hatten es nicht einen Augenblick vermisst. Liegnitz wartet in meiner Wohnung beim Erzengel! Weil die Türen zu eng waren und die Fenster schmal, wurde es in Teile zerlegt geliefert. An einem frostigen Februartag. Der Klavierbauer trieb die Träger an, Stimmstock, Hammerleiste, Gehäuse, Tastatur, Klaviaturboden, Resonanzboden, Füße ins Haus zu tragen. Dann schickte er sie nach Hause. Sie konnten nichts mehr tun. Ich auch nicht. Er schwitzte, schraubte, klopfte. Mit sanften Händen. Holz arbeitet. Sagte er. Heftig atmend. Egal wie alt es ist. Holz arbeitet immer. So lange es lebt. Empfindet es jeden Wechsel. Der Temperatur. Der Luftfeuchtigkeit. Der Stimmung. Nach einer Stunde beruhigte er sich. Nach zwei Stunden strahlte er. Und reichte mir die Hand zum Abschied. Ich solle spielen. Empfahl er. So viel wie möglich. Die Nachbarn, lächelte er verschmitzt. Müssten eben ausziehen. Ich müsste spielen. Der Stimmstock müsste sich verziehen. Die Saiten. Die Töne. Das Holz. Arbeiten. Unreine Kadenzen seien ein Zeichen dafür, dass das Liegnitz seine Seele rufe. Sie aus anderen Zimmern, anderen Zeiten zurückhole. Sich bei mir inkarniere. Spielen! Wiederholte er mit Nachdruck. Möglichst bis zum Ende der Heizperiode. Dann käme er. Versprach er damals. Und würde es für mich wieder stimmen.

Von Frankfurt aus hatte ich W. angerufen. Er war fröhlich. Ich mürrisch. Er wusste bereits, dass die Maschine aus Washington DC pünktlich gelandet war. Aus dem Internet. Wir hatten Verspätung. Beharrte ich. Mindestens zwanzig Minuten. Ich konnte nicht schlafen. Kinder von indischen Großfamilien weinten die ganze Nacht. Neben mir fachsimpelten ein amerikanischer und ein malaiischer Zahnarzt. Betrachteten faule Zähne in Großformat. Ich legte auf und fragte mich, wozu ich meinen Mann anrufe. Wenn ihm das Internet alles bereits gesagt hat. Und erst dann wunderte ich mich, wie eine Telefonkarte der Deutschen Telekom in meine Handtasche geraten war. Ich hatte automatisch hineingegriffen. Sie automatisch herausgezogen. Automatisch in den Schlitz des Automaten gesteckt. Ich erschrak. Ich war eine japanische Schlafwandlerin geworden! 
  Beim Erzengel Michael .

Seit einigen Jahren wohnen wir im Hochparterre eines elfstöckigen Plattenbaus mitten in Berlin. Baujahr Orwell, 1984. Die Berliner Mauer zog damals unerschütterlich ihrer Wege durch die Stadt. Kam von der Stallschreiberstraße querfeldein, umrundete das Engelbecken, begrub es im Todesstreifen, und folgte dem Engeldamm bis zur Schillingbrücke. Die Ruine der Michaelkirche stand im Schatten eines groben Kontrollturms. Presbyterium und Querschiff waren nach dem Krieg notdürftig wieder hergerichtet worden. Die Gläubigen knien und beten seither nach Westen. Nicht mehr, wie früher, nach Norden. Schon immer gab es hier eine ansehnliche polnische Gemeinde. Sonntags wird die Abendmesse in polnischer Sprache gelesen.

W. lebte immer im Wedding. Vor der Mauer, während der Mauer und nach der Mauer. Ich kenne die Stadt nur ohne Mauer. Ich befand mich lange Zeit an anderen Enden der Welt. Nach Berlin kam ich aus dem Osten, aus Warschau. Lange nach ihrem Fall. Offenbarte sich die Mauer. Im Frühsommer 1999. Mir. Als ich zum ersten Mal vor dem unversehrten Glockenturm der Michaelkirche stand. Unter dem schneeweißen Erzengel Michael. Auf jungem Rasen. Inmitten einer eilig und nach historischen Plänen wieder erstandenen Baumanlage. Als ich unsere neue Wohnung zum ersten Mal von außen betrachtete. Da spürte ich die Mauer auf der Haut. Im Nacken. Und unter den Schuhsohlen. Sie stand leibhaftig vor mir. Trennte schlagartig das Sichtfeld. Die Wortwahl. Drüben. Sagte W. War Westen. Kreuzberg. Die Himmelsrichtungen sind nicht die von Sonne und Mond. Unten, fuhr er fort, raste die U-Bahn ohne Halt durch. Oben ist die Grenze mitten in der Stadt.

Bereits die Nachbarn im vierten Stock konnten hinüber starren. Über die Mauer, über den Todesstreifen, über das zugeschüttete Engelbecken, über den Wachturm, über die Schießscharten, über die Schäferhunde, über die Selbstschussanlagen. Hinein in die Küchen der Kreuzberger Türkinnen. In ihre Kochtöpfe. Unter ihre Kopftücher.

Unser Hausengel, der Erzengel Michael ist der Patron des Deutschen Volkes, der Katholischen Kirche, der Soldaten, der Apotheker, Eicher, Gewichtemacher, Kaufleute, Bäcker, Bankangestellten, Drechsler, Glaser, Maler, Radiofachleute, Ritter, Schneider, Vergolder, Versilberer, Blei-, Zinn- und Kupfergießer, aber auch der Armen Seelen, der Sterbenden, der Kirchhöfe, er sorgt für einen guten Tod und schützt gegen Blitz und Ungewitter. Ich nehme an, er war letzte Nacht in Rom. Und stand dem sterbenden Papst bei. Heute abend wird wieder die Messe in polnischer Sprache gelesen. 

ARCHIVES
April 2005 / Mai 2005 / Juni 2005 / Juli 2005 / August 2005 /


Powered by Blogger