Beim Erzengel
Dienstag, Juni 28, 2005
  Flotte Lotte .

Die Zuversicht stellt sich so unvermittelt wieder ein, wie man ein Telefonbuch aufschlägt. Meine neue Frisöse heißt Birgit. Sie schnitt mir heute die Haare.

Birgit sagt, ihr fehlten Worte. Für Frisuren.
Ich bin verblüfft. Du hast doch Kataloge. Zeitschriften. Trends und Moden.
Sie legt die Schere beiseite. Schaut nach im Handbuch der Saison. Es ist so dick wie mein Telefonbuch. Nur die Haarfärbfarben haben dieses Jahr Namen. Die Strähnchentöne. Die Lockenwickler. Anschauliche Namen. Unanschauliche Pastellfarben. Appetitanregende kunterbunte Kunstnamen. Die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Einsilbig abgetönte Mischfarben. Wie Aprikosenschaum. Oder Bitterklee. Malvenmousse. Blutbuchenzauber. Zimtstengelmatt. Pfirsichblütenstaub. Joghurtnamen. Namen aus dem italienische Eiscafé nebenan. Aus der Milchprodukteabteilung. Der leichten Quarknachspeisen im Kühlregal. Birgit ist unentschlossen. Ich will weder einen Namen noch eine Farbe auf meinen Kopf. Die Frisöse legt das Buch aus der Hand. Verlässt den Salon. Bestellt beim italienischen Kellner zwei Milchkaffee im Glas. „Wir nehmen uns Zeit für Haare“, steht im Schaufenster. In Spiegelschrift.

Frech kann eine Frisur nicht sein. Meint Birgit. Mit der Schere in meinem Nacken. Eine Frisur ist kein Gefühl.
Ich rühre mich nicht. Frech ist kein Gefühl. Frech ist eine Ungezügeltheit. Und umso mehr kann eine Frisur nicht frech sein. Die Sprache ist altmodisch. Sage ich. Und schwerfällig. Ein Vehikel, das nicht ohne Buchstaben auskommt. Jedes Wort hinkt dem Haarschnitt unweigerlich nach. Unbeholfen. Und ungehobelt. „Sexy“ ist das einzige Adjektiv, welches das Handbuch der Köpfe dieses Sommers kennt. Eine sexy Frisur. Birgit ist enttäuscht. Die Frauen auf den Fotos sehen zerzaust und stachelig aus. Ungekämmt. Und unausgeschlafen.

Zu kurz, sagt die Frisöse, sieht zu sportlich aus. Und wundert sich, dass der letzte Schnitt so lange gehalten hat.
Ist das nicht normal? Eine dämliche Frage. Wo soll denn der Haarschnitt hin? In die neue Rechtschreibung?

Flott, bekennt Birgit, gefällt mir. Es ist ein Wort aus den siebziger Jahren. Sie schnippelt wild an meinen Fransen. Die herabregnenden Haarspitzen kitzeln. Ich schließe die Augen. Und blättere im Geist. Im etymologischen Wörterbuch. Flott gehört dort in die Seemannssprache. Seine Ausgangsbedeutung ist „obenauf schwimmen“. Das Adjektiv gewinnt im 18. Jahrhundert allgemeine Verbreitung und entwickelt die übertragene Bedeutung von „lebensfroh, munter“.

Meinetwegen. Murmle ich plötzlich zuversichtlich. Flott. Eine flotte Frisur. Eine flotte Sommerfrisur. 
Montag, Juni 27, 2005
  Tinnitus .

Letzte Woche ist mir meine Zuversicht abhanden gekommen. Gleichzeitig ist das Klirren im rechten Ohr verstummt. Ich kann die seismometrischen Registrierungen meiner inneren und äußeren Organe nicht mehr deuten.

Vorletzte Woche pilgerte ich zu einer Hals-Nasen-Ohren-Ärztin im Osten der Stadt. Legte mich an fünf Tagen hintereinander auf die Pritsche in ihrem Behandlungsraum und ließ mir eine durchsichtige Flüssigkeit in die Venen des rechten Armes träufeln.

Die Hälfte meines Lebens verschweige ich. Einer unaussprechlichen Gerechtigkeit wegen. Um das mathematische Gleichgewicht von Wort und Unwort zu wahren. Und aus Rücksicht auf meinen Großvater in Amerika.

Täglich tropften 250 ml HAES 6% in meinen Blutkreislauf. Anschließend fuhr ich mit dem Fahrrad über den Alexanderplatz nach Hause. Ein braches Lastwagenfeld. Am zweiten Tag entdeckte ich einen ungefährlicheren Weg. Und traf auf Karl Liebknecht in Bronze. Er zeigt mit dem nicht ganz ausgestreckten rechten Arm stumm nach Osten. Bekleidet nur mit einem groben Arbeitskittel. Steht er an der Ecke Hirtenstraße - Karl-Liebknecht-Straße. Auf den Steinbänken hinter dem Denkmal ruhten sich täglich Rentner aus. Ich wagte nie, sie zu fragen, wer der kalte Riese wirklich sei. Ein Namenstäfelchen konnte ich nirgends entdecken. Keine Jahrzahl. Kein Wort des Lobes. Oder Dankes.

Täglich lag ich dort 45 Minuten und schwieg. Hörte die Stimme der Praxishilfe. Am Telefon. Oder nebenan. Vor dem grauen Stoffvorhang. Hinter dem ich an die weiße Decke starrte. Wenn sie Ohren spülte. Ohren wärmte. Ohren zum Hörtest führte. In die schalldichte Zelle.

Erst auf der Alexanderstraße fühlte ich mich jeweils wieder in Sicherheit. Sie ist auf ihrer ganzen Länge aufgerissen und für jeden Verkehr gesperrt. Fahrräder werden an der monströsen Baustelle vorbei auf dem Bürgersteig bis zur Brückenstraße geleitet. Ausgerechnet mitten auf den mehrspurigen Kreuzungen fürchtete ich immer am meisten, dass die unscheinbare Fremdflüssigkeit mit meinem Organismus etwas Unumkehrbares anstellen könnte. Ich hielt mich an alle Verkehrsregeln und trat nur bei grün los.

Die Durchblutung des Innenohrs muss verbessert werden, erklärte die Ärztin. Das Ohr tickt immer noch wie eine Schweizer Präzisionsuhr, wiederholte ich stur. Während sie mir die Nadel setzte. Ich dürfe mich nicht auf das Geräusch konzentrieren. Mahnte sie. Aber ich will doch wissen, ob es noch da ist.

Eineinviertel Liter chemisch ausgewogener und nebenwirkungsfreier Flüssigkeit. Freiwillig in meiner Blutbahn. Tinnitus ist keine Krankheit. Tinnitus ist beileibe kein Herzinfarkt im Ohr. Tinnitus ist nicht heilbar. Ich trage die Zweifel an der Diagnose nach Hause und lege mich ins Bett. Die Tabletten, die sie mir zuerst verschrieben hatte, setzte ich nach eineinhalb Tagen ab. Mein Kreislauf stand Kopf. Und an meine Schädeldecke schlug die vor einem halben Jahr vom Seebeben vor Sumatra ausgelöste Welle. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich sterbenselend.

Ich habe keinen Tinnitus. Vorletzte Woche tobten in meinem rechten Ohr die Vorboten der Zuversicht, die ich letzte Woche verlor. 
Samstag, Juni 25, 2005
  Gänsemarsch .

Konwickis Tagebuch von 1974 ist gar kein Tagebuch. Vom Jahr 1974 erzählt der Tagebuchschreiber so gut wie gar nichts. Er selbst nennt es sogar „Lügentagebuch“. Aber Lügen erzählt er auch nicht. Ich mache mir nur noch Gedanken über mein Konzept. Für das dritte Buch über meinen Meister.

Die Hitze heute hat mich erschlagen. Weit nach Mitternacht kam ich mit dem Fahrrad von Neukölln nach Hause. Zur Zeit wird es nachts weder kalt noch dunkel. Am Nachmittag zersprang mir der Kopf. Ich legte mich ins Bett. Stellte den Wecker auf halbfünf. Länger als eine Stunde sollte man tagsüber nicht in Schlaf versinken. Und dann kam das Gewitter. Die Temperatur sank blitzartig um 15 Grad auf erträgliche 21. Berlin ist ein Sammelsurium von Welten.

Ich hatte völlig vergessen, dass mein Meister seinen Meister hatte. Stanisław Dygat. Ist ja ganz normal. Und so bewegen wir uns im Gänsemarsch durch die Ewigkeit.

Im Tagebuch von 1974, das kein Tagebuch ist, sondern so etwas sie ein Selbstfindungsbuch, ein Umgebungsfindungsbuch, ein Vergangenheitsfindungsbuch – oder gar ein Selbst-Erfindungsbuch, ein Umgebungs-Erfindungsbuch, ein Vergangenheits-Erfindungsbuch, schreibt mein Meister, Konwicki, wen wundert’s, ausführlich über, nebst vielen anderen, seinen Meister, Dygat. Ein Meister ist eben ein Meister. Dem wird Platz eingeräumt. Im Leben. Und im Werk. Also auch in der Konstruktion der literarischen Selbstdeutung. 1976 erschien „Kalendarz i klepsydra“. Das war damals normal. Manuskripte hatten lange Korridore zu durchschreiten. Auch normal war, dass Konwicki nie mit jemandem darüber sprach, was er gerade schrieb. Nicht einmal sein Meister wusste, was Konwicki im Jahr 1974 nachts an der Górskistrasse trieb. Und dann war dieser Meister, der zwei Meter lange dicke Dygat, so empört über die Passagen des gewitzten schmalbrüstigen Ziehsohnes zu seiner Person, dass er bis kurz vor seinem Tod kein Wort mehr mit Konwicki sprach.

W. ist im Anflug auf Schönefeld. Berlin ist ein Sammelsurium von Möglichkeiten.

Die Zensur strich aus dem Manuskript eine Textstelle, in der Konwicki berichtet, dass er zweimal im Leben geohrfeigt wurde. Einmal vor dem Krieg. Auf dem Pausenhof von einem älteren Schüler. Und einmal nach dem Krieg. Im Januar 1968 von einem polnischen Milizionär. Ich weiß, dass diese Ohrfeigenszenen in Konwickis Romanwerk herumgeistern. Es fällt mir auch nicht schwer, sie genau zu lokalisieren. Aber was heißt das?

Berlin ist ein Sammelsurium von Grenzwerten. Ich weiß keine Anekdoten über meinen Meister zu erzählen. Ich rufe ihn ungefähr einmal im Monat an. Ich sage ihm nicht, dass ich noch ein Buch über ihn schreibe. 
Donnerstag, Juni 23, 2005
  Sauerkrautsaft .

In Polen ist alles easy. Ich schrieb eine email an meinen Freund Wojtek, der sich seit Jahren mit dem Literarischen von Eisenbahnfahrplänen beschäftigt. Und eine email an Frau Indyk. Wäre diese Frau nicht Verlagsleiterin in Krakau, sondern lebte in der mehr oder weniger freien Wildbahn, dann könnte sie zu Weihnachten gefüllt, gestopft, gebraten oder gebacken werden. Für die Ornithologen ist Indyk nämlich Truthahn. Aber ich will einen literaturwissenschaftlichen Essay über Konwickis narratives Ich schreiben. Wojtek verfasst, wie gehabt, das Vorwort dazu. Und Frau Indyk meint, ja dann schreiben Sie mal.

Jetzt trinke ich vor dem Essen ein Gläschen Sauerkrautsaft. Das beruhigt die Nerven.

Ich weiß nicht, warum ich überhaupt noch deutsch schreibe. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt verheiratet bin. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt. Hier. Bin.

Kürzlich in der Nacht, als ich mit Tanja Dückers über den Alex nach Hause fuhr, konnte sie sich auf dem Fahrrad vor unserem Orwellhaus überhaupt nicht mehr einkriegen vor Staunen, dass wir beide, Wessis!, freiwillig in einen ostberliner Plattenbau gezogen sind.
So ein Gedanke ist mir noch nie im Leben gekommen. Dass ein Wessi nicht in einen Plattenbau ziehen könnte. Ich bin ja keine Wessa. Auch keine Ossa. Ich bin gar nichts. Gehöre weder hierhin noch dorthin. Ich bin vielleicht eine Swissa. Oder eine Aussa. Oder eine Südda. Ja, ich stamme aus dem Süden. Das ist unverfänglich und geografisch korrekt. Wolfgang hingegen ist ein waschechter Weddinger, ein nordwestberliner Arbeiterkind.
Und dann verstand ich auch endlich, warum Tanja, die ja nicht auf den Kopf gefallen ist und nur drei Häuserecken weiter in Kreuzberg wohnt, bei unserer Abschiedsparty am 25. Dezember nicht erschienen ist. Weil sie unsere Wohnung nicht gefunden hat. Weil sie den Michaelkirchplatz nach einem westberliner fünfstöckigen Altbau abgesucht hat. Die sind aber alle beim letzten Bombenangriff im Februar 1945 in Schutt und Asche gelegt worden. Sie sei, schrieb sie mir in einer verzweifelten email am 26. Dezember, eine halbe Stunde in der Kälte herumgeirrt und habe nirgends die Nummer 23 gefunden. Ich konnte das damals überhaupt nicht verstehen. Wir wohnten ja noch nicht in Japan, wo es tatsächlich weder Hausnummern noch Straßennamen gibt. Jetzt ist es mir klar: Tanja Dückers hatte einfach eine Wegfahrsperre im Kopf – so wie alle blitzblanken Autos vor meinem Balkon am Lenkrad. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Wessis in den Osten ziehen und zwar richtig. In die Platte.

Jetzt setze ich mich vormittags eine Stunde auf den Balkon und lasse mir die Sonne auf den Buckel brennen. Damit ich etwas Wärme in die Haut kriege. Mein Ehemann ist am Dienstag nach Eastbourne geflogen. Zur Atlas-Konferenz. Weilte er in Stralsund bei seiner Arbeit, wäre ich längst zu ihm gefahren. Mit meinem kleinen Kummer kann ich ihm aber nicht über den Golfstrom nachflattern. Ich bin kein ornithologisches Fluggerät. Und keine Mastgans. Also sitze ich auf dem Balkon, halte Zwiesprache mit meinem Erzengel und lese Konwicki.

Und trinke vor dem Essen ein Gläschen Sauerkrautsaft. Das fördert die Verdauung. In Polen ist alles easy. 
Mittwoch, Juni 22, 2005
  Mein Meister .

Mein Meister in Warschau hat heute Geburtstag. Ich rief ihn früh an. Denn später ist er immer schlecht erreichbar. Er war aufgeräumt. Fröhlich. Ließ mich nicht zu Wort kommen. Munterte mich auf.

Mein Meister heißt Tadeusz Konwicki. Er ist einer der wichtigsten Schriftsteller und Filmemacher des polnischen zwanzigsten Jahrhunderts. Im Rest der Welt vorwiegend unbekannt. Ich schrieb über ihn – über sein literarisches Werk – meine Doktorarbeit. An unserer Hochzeit in Warschau vertrat er den Brautvater. Er verheiratet mich an einen Deutschen. Und tat dies so ungern, wie es mein eigener Vater auch getan hätte. Mittlerweile hat er aber verstanden, dass W. eigentlich ein Asiate ist.

Er hat ja so recht. Mein Meister in Warschau. Dass ich ihn heute früh nicht zu fragen brauchte, wie es ihm gehe. Er ist so alt wie meine Mutter, 79. In einem Jahr, beschloss ich heute früh, nachdem ich getröstet den Hörer aufgelegt hatte, muss mein drittes Buch über ihn erschienen sein. Futur II. Das narrative Ich als produktive Obsession. Welchen Beschränkungen unterliegt ein Ich-Erzähler? Wieviel Wahrheit verkündet ein autobiografisches Ich? Über diese Fragen habe ich schon Jahre nachgedacht. Im Mai ist Konwickis Tagebuch von 1974 erstmals in der unzensierten Fassung erschienen. Das Material ist vollständig. Ich habe keine Ausrede mehr.

Das Tagebuch von 1974. „Kalendarz i klepsydra“ = „Kalender und Sanduhr“. Konwicki schrieb es, als er so alt war wie ich heute. Damals hatte er bereits seine ganze offizielle Karriere hinter sich. Mit dem nächsten Manuskript ging er in den Untergrund. Dort blieb er fast zehn Jahre. Danach kam bald die Wende. Und seither schweigt Konwicki.

Mein Meister Tadeusz Konwicki. Ich lernte ihn im April 1984 in Warschau kennen. Saß verschüchtert zum ersten Mal in seinem Wohnzimmer. Er im Schaukelstuhl. Ich radebrechte Polnisch. Er schenkte mir ein Buch, „Kalendarz i klepsydra“ – die zensierte zweite Auflage von 1982. Mit der Widmung: „Für Judith B., der ich Erfolg in Polen und in der Polonistik, aber auch im Leben wünsche – Tadeusz Konwicki, Warszawa 7.4.1984“. Damals war ich noch nicht mit Herrn A. verheiratet. Und hieß B.

Mein Meister. Mein erstes Buch in Deutsch, die sechshundert Seiten starke Doktorarbeit, hat einen unaussprechlichen Titel. Das zweite, in Polnisch, ist schmal und bescheiden illustriert. Es heißt lapidar „Mój Konwicki“ - „Mein Konwicki“. Das dritte, Polnisch und im Futur II gehalten, wird ganz auf Fotos und überflüssige Worte verzichten. Und einen hinterlistigen Titel tragen müssen.

Im Mai war ich in Warschau. Kaufte mir den neuen alten „Kalender“. Reihte mich nach der Buchpräsentation geduldig in die sozialistische Warteschlange ein. Bat meinen Meister um eine Widmung. Er würdigte mich grimmig keines Wortes. Keines Blickes. Überlegte keine Sekunde. Schrieb zügig, was er mir nach einundzwanzig Jahren zu sagen hatte. Und griff nach dem nächsten Exemplar.

Ich ließ das Buch stundenlang, tagelang nicht aus den Augen. Bis ich endlich wagte, auf dem Rückweg, im Warschau-Berlin-Express, es aufzuschlagen. „Meine liebe Judith, Du weißt alles! Tadeusz Konwicki 18.5.2005“.

Sto lat – auf hundert Jahre! 
Dienstag, Juni 21, 2005
  Sandkasten .

Es gibt absolut nichts zu schreiben. Die Banalität des Alltags. Seit zwei Tagen lärmt in unserem sonst so beschaulichen Hinterhof, zwischen unseren sozialistischen Orwellblöcken ein kleiner Löffelbagger. Gestern trug er den Sand aus dem Spielplatz ab, schaufelweise. Der Motor jaulte jedesmal erbärmlich, wenn er die Anhöhe zur Abenteuerhängeleiteranlage hochfuhr. Dann starb er ab. Und fuhr rückwärts mit gefülltem Maul wieder runter, bog um die engen Kurven, raste unter den Kastanienbäumen geradeaus vor die Häuser, vor die Ruine der Kirche, vor den Erzengel Michael. Und spuckte den Dreck einfach auf die Straße. Heute früh kippte ein Lastwagen zwei frische Sandberge direkt vor meinen Balkon auf die freien Parkplätze unserer Nachbarn. Röhrte und tobte. Und sog dann den alten Dreck auf. Während der Kinderbagger die neuen Berge abtrug, suppenlöffelweise. Mit aufjaulendem Motor. Durch die stillen Häuser und blühenden Linden. Verteilte der Baggerführer den von Hunden noch nicht verschissenen Sand gleichmäßig im Kinderspielplatz. Im Schatten des Kletterdachs stand sein Gehilfe und dirigierte mit nacktem Oberkörper.

Kinder sehe oder höre ich hier selten spielen. Sie sind mit der DDR ausgestorben. 
Freitag, Juni 17, 2005
  Großvaters Geburtstag .

Mein Großvater Paul hat heute Geburtstag. Er schläft noch, da er auf der anderen Seite der Welt lebt. Vor dem Frühstück wird er mit meinem einäugigen Pferd über die Felder reiten. Danach wird er sein Stirnfellhaar glätten und murmelnd den linken Augapfel trösten. Die Gesichtshaut beginnt sich allmählich abzulösen. Über der gewölbten Stelle. In vielen tausend hauchdünnen Schichten. Das geschlossene Auge verlangt unendlich viel Geduld. Von mir. Von Großvater. Von seiner Hand und seinen Fingerspitzen. Vom Sprunggelenk. Vom Schweif. Von den Nüstern und Oberlippen.

Mein Großvater Paul wird heute 91 Jahre alt. Im Traum habe ich ihm schon alle Geschenke überreicht. Großmutter Hanni kam gerade vom Frisör und ihr schneeweißes Haar duftete wunderbar.

Vor einem Jahr gratulierte ich Herrn B. zum 90. Geburtstag. Und wohl schon im Jahr davor zum 89. Herr B. ist der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der mir die direkte Verbindung zu einer literarischen Figur herstellen konnte. Meine Romanfigur war Herrn B.‘s Großtante. Und Herrn B.’s zukünftige Frau lernte als pausbäckiges Mädchen mit dicken schwarzen Zöpfen bei dieser Großtante Englisch. Eine segensreiche Investition in die Zukunft. Denn die gestrenge Lehrerin prüfte ihre Schülerin auf Herz und Nieren. Ob sie ihrem Lieblingsneffen, Klein Päuli, eine gute Gattin abgäbe. Und Herr B. beschloss Jahre später, ich war wahrscheinlich gerade erst großvaterlos in Liestal auf die Welt gekommen, mit Frau und drei Kindern nach Amerika auszuwandern. Wie erleichtert war ich, dass Herr B. in Pennsylvania heute ohne Scheu Computer, Email und Internet nutzt. So wie er als junger Käser in Ägypten mit sensiblen Milchkühen und eigensinnigen Stieren umzugehen wusste. Ein furchtloser Mensch, mein Großvater!

Die Metamorphose vieler Gedankengänge. Die Verwandlung von Gefühlen wie Angst oder Schmerz. Das Klirren in meinem rechten Ohr ist gestern früh verstummt. Heiko hat nach dem Tai Chi seine Hand vor mein Ohr gehalten. Nur so. Währen wir noch im Akazienhof herumstanden und überlegten, ob wir uns drinnen oder draußen hinsetzen wollten. Zu unserer donnerstäglichen Latte macchiato. Er wollte spüren, „ob da etwas ist“. Aber da war nichts mehr. Die Abwandlung von Wörtern und Namen. Als ich Herrn B. auf der Rückreise von Japan in New Holland besuchte, nannte ich ihn Paul. Vom ersten Augenblick an. Etwas anderes wäre überhaupt nicht in Frage gekommen. Erst als ich wieder in Berlin war und mit dem Erzengel auf dem Glockenturm sprach, spürte ich, dass mir etwas fehlt. Dieses Gefühl kann man, wenn es richtig schmerzt, Sehnsucht nennen. Und das, was mir fehlte, war Paul. Erst als ich längst wieder weit weg von ihm war, verstand ich, dass er mein Großvater ist. Die Begrifflichkeit von Lebensläufen.

Mein Großvater Paul feiert heute seinen 91. Geburtstag. Ich bin stolz auf ihn und vermisse seine starken Hände. Ich danke ihm, weil er mein einäugiges Pferd pflegt. Weil er mit Engelsgeduld und Berndeutsch sein linkes Auge öffnet. Damit ich es eines Tages abholen kann. Und durch die Personenkontrolle am Flughafen Dulles mitnehmen darf. Auf meinem Berliner Balkon blühen Blumen, die ich nicht gepflanzt habe. Sie fanden ihren Weg aus der letztjährigen Erde in den Kästen allein.

Ich gratuliere Dir herzlich, lieber Großvater Paul, und wünsche Dir alles Gute, schmerzfreie Tage, unbeschwertes Atmen. Und uns beiden eine virenfreie Standleitung. 
Dienstag, Juni 14, 2005
  Unausgeglichen .

Heute beim Tai Chi neben dem Erzengel habe ich plötzlich gespürt, dass meine linke Hand, ja mein ganzer langer linker Arm, in der Lage sind, einen Raum zu bilden. Vor meinem Körper. Und um meinen Oberkörper herum.

Oft habe ich das Gefühl, dass eine Bewegung in die eine Richtung, auf der einen Seite, besser gelingt, als in die andere.

Und dass ich gespalten bin.

Das Ticken. Es hat nur das rechte Ohr besetzt. Und dennoch denke ich, muss es Japan sein. Japan im Allgemeinen. Japan überhaupt. Japan pur.

Der Sommer ist da. In Berlin. Abends um zehn Uhr ist es noch hell. Das ist aber auch alles. Von diesem Sommer. W. in Stralsund hat Schnupfen und Halsschmerzen. Zuviel „gequatscht“, sagt er und lacht etwas gequält. Sturmböen werden vorausgesagt für die Ostseeküste. Und in den bayerischen Alpen Nachtfrost.

Ich habe es nie aufgeschrieben. Dass der letzte Arbeitstag in Tsukuba von einem ganz anderen Schrecken besetzt war, als von dem „undramatischen Naturereignis“ auf Rügen. Die Wissower Klinken waren abgebrochen und in die Ostsee gestürzt. Die Wohnungsabnahme hatte in der Früh stattgefunden. Wir hatten unsere Schuldigkeit getan. Wir sollten nicht mehr telefonieren. Ich wartete den ganzen Tag auf die elektronische Kofferwaage. Nicht nur wir zogen Ende Februar aus dem Ninomiya-House aus. Der Professor war zu seinen beiden letzten wichtigen Terminen nach Tokyo gefahren. Bereits am Vormittag, nach dem „final payment“.

Um 14:30 Uhr klingelte das Telefon. Ich dachte, es sei die Verwaltung. Die Kofferwaage. Die Erleichterung. Das Ende allen Abwägens. Beide Koffer müssen 20 kg schwer sein. Aber es war eine Tokyoter Sekretärin. Die mich immer wieder bat, zu warten. Den Hörer weglegte und wahrscheinlich im Wörterbuch nach dem nächsten Wort blätterte. Und mir schließlich zu verstehen gab, dass der Professor noch nicht eingetroffen sei. Ihr Chef warte seit einer halben Stunde. Es gelang mir, die englische Frage in ihrem Hirn zu plazieren, ob sich denn ihr Büro direkt an der Tokyo-Station befände. Sie nickte akustisch. Ich legte auf. Ich wusste nur, dass der erste Termin direkt an der Tokyo-Station stattfinden sollte. Ich konnte mir in diesem Land weder Namen noch Institutionen merken. Nur Wege. Zugänge. Straßenüberquerungen.

Warum war der Professor, der kurz nach zehn Uhr im Regen das Ninomiya-House verlassen hatte, bis halb drei noch nicht an der Tokyo-Station eingetroffen? Das war die Frage, die mir für den Rest des Nachmittags in den Ohren lag. Der Bus brauchte normalerweise anderthalb Stunden. Und alle zehn Minuten fuhr ein Bus von Tsukuba Center los. Also hätte der Professor noch lange pünktlich sein können, auch wenn der Bus unerwartet mehr als doppelt solange gebraucht hätte. Im Stau. Weiß der Himmel wo. Durch meinen Kopf schossen viele Bilder. Und Gedanken. Und Kombinationen von beidem. Die ich hier nicht wiederzugeben brauche. Am vorletzten Tag in einem Land plötzlich auf sich allein gestellt zu sein. Ich versuchte zu funktionieren und kühl auf die Kofferwaage zu warten. Ich schrieb meinen vorletzten Blogeintrag.

Das Telefon klingelte nach fünf Uhr ein zweites Mal. Ich dachte, es sei der Professor. Die Erklärung. Die Erlösung. Das Ende allen Abwägens. Wider aller Vernunft. Aber es war die Verwaltung, die freitags nur bis vier Uhr arbeitet. Ich erhielt Instruktionen, von wem ich die Kofferwaage erhalten würde und an wen ich sie weitergeben möge. Ich nickte. Notierte die Appartementnummer des indischen Biologen. Tränenlos. Ich besaß nicht einmal eine Telefonnummer von Aoki-san. Die Verwaltung arbeitet nicht mehr bis Montag früh. Nur die Internetleitungen stehen.

Falls der Professor an keiner Stelle dieses Landes wieder auftauchen würde. Was sollte ich dann mit den zwei gewichtsmäßig ausgeglichenen Koffern tun? Der Professor musste annehmen, dass das Telefon in Appartement 2107 abgeschaltet worden sei im Moment, als er sich zum Busbahnhof aufmachte. Es gab keinen Grund für ihn, mich anzurufen. Er würde wie verabredet, am Abend zurückkommen. Ich konnte ihn nicht anrufen. Wir sollten nicht mehr telefonieren. Und er besaß in diesem Land kein Mobiltelefon.

Am letzten Arbeitstag in Tokyo. Vom Erdboden verschluckt. Oder in die Ewigkeit abberufen. Am Tag vor seinem Geburtstag. Ich hatte keine Ahnung. Gegen neun Uhr saß ich in der kalten Bibliothek und postete meinen unschuldigen Blog. Da kam er daher. Wie ich es mir gewünscht hatte. Aber der kühle Verstand sprach den ganzen Nachmittag gegen Wünsche und Gefühle. Da kam er daher. Lächelnd. Durchnäßt. Müde. Mit dem Taxi von Tsukuba Center. Um schneller bei mir zu sein. Er hätte den ganzen Tag im Stau gestanden. Und ich in Todesängsten. Er verstand mich nicht gleich. Nahm mich in seine Arme. Er konnte nicht wissen, dass mich eine Sekretärin angerufen hatte. Woher wusste die unsere Privatnummer? Wunderte sich der Professor. Eine andere gibt es nicht.

Wir gingen zu Otaru Zushi. Zum letzten Mal Sushi essen. Ich konnte mich lange nicht beruhigen. Warum sich die Bar mit Z schreibt, habe ich bis heute nicht verstanden. 
Sonntag, Juni 12, 2005
  Sonntagsbesuche .

Zum Frühstück bei Schwiegereltern in Charlottenburg. Dann W. zum Bahnhof Zoo begleitet. Und mit dem Intercity bis Ostbahnhof im Erstklassabteil mitgefahren. Dort küsste ich meinen Mann und stieg aus dem Zug wieder aus. Unsere Sonntagsabschiede. Der 147-Bus war gerade weg. Also nahm ich die S-Bahn. Eine Station bis Jannowitzbrücke. Und kehrte zu Fuß nach Hause zurück. Mit einem kleinen Umweg um den Bärenzwinger im Köllnischen Park. Die Bären hatten Mittagessenszeit und grapschten Weintrauben und Melonenstückchen aus den Bäumen.

Schwiegervater ist von der Krankheit gezeichnet. Schwiegermutter hat die Geduld verloren. Ihn lassen die Spannungskopfschmerzen nicht mehr los. Sie klagt über Kreuz und Knie. Er sagt immer weniger. Sie hört immer schlechter. Ein leiser Rückzug in die Ewigkeit.

Die Berliner Stadtbären sind unsere Nachbarn. Das hatte ich zeitweilig vergessen wie den Erzengel auf dem Glockenturm von unserem Orwellhaus. Nur Japan ist nach wie vor überall. Vorgestern kam in der Süßigkeitendose aus bemaltem Spanholz in Form eines Schweizer Alphornbläsers (ein Geschenk meiner Schwester an ihren Berliner Schwager) eine angebrochene Meiji Milk Chocolate (Milchschokolade) zum Vorschein. Neben einer angebrochenen Wedel Czekolada Gorzka (Bitterschokolade). Heute nachmittag entdeckte ich auf dem Schreibtisch, an dem ich täglich meine emails abrufe, zwei Feuerzeuge. Ein schwarzes „Romantic Hokkaido“. Und ein weißes, mit einem zierlichen schwarzen Hahn und zwei aseptischen Kanji-Zeichen. Niemand raucht bei uns. Aber W. deckt sich in jedem Land, in jedem Hotel, in jedem Souvenirshop mit nützlichen Dingen wie Schreibpapier, Streichhölzern und Gästezigaretten ein.

Schwiegervater kann noch immer nicht verstehen, dass sein jüngerer Sohn mit „Quatschen“ Geld verdient. Er selbst hat seiner Lebtag viel und schwer auf Schultern und im Nacken getragen. Als Zimmermann. Und nun zerspringt ihm auf die alten Tage der Kopf.

Unsere Nachbarn, der amtierende Stadtbär Tilo und die Bärinnen Maxi und Schnute, werden täglich um 12:30 Uhr gefüttert. Kaum jemand weiß, dass das Berliner Wappentier, der Berliner Bär, lebt. Und bei uns um die Ecke wohnt. Unweit der Spree. Im Schatten des Märkischen Museums. In einem ehemaligen Straßenreinigungsdepot. Das 1938 zum Bärengraben umgebaut und ausgehoben wurde. Bis heute will sich kaum jemand tatsächlich daran erinnern, dass der Berliner Bärengraben am 17. August 1939 offiziell eröffnet wurde. Die ersten Bären waren ein Geschenk der Schweizer Bärenstadt Bern: die Bärin Vreni und der Bär Urs. In der DDR-Geschichtsschreibung wurde die Eröffnung des Berliner Bärenzwingers um 10 Jahre nach vorne verlegt. So machte sich die Sache besser in den Schulbüchern. Wie hätte man den Kindern erklären sollen, dass hier Herz gezeigt wurde, für Mensch und Tier, während kaum zwei Wochen später die Ostgrenze überschritten und der fürchterlichste Krieg in der Geschichte der Menschheit losgetreten wurde? Das Berner Bärenpaar hatte sich noch nicht an der Spree eingelebt, als an der Weichsel bereits die Kapitulation verkündet wurde. Vreni und Urs überlebten, wie so viele, das Bombengewitter vom 3. Februar 1945 über der Luisenstadt nicht. Und Bern schenkte dem neugegründeten „deutschen Teilstaat” 1949, nach der Wiederherstellung des Bärenzwingers im Köllnischen Park, erneut ein Bärenpaar, Nante und Jette. Und bis heute werden die Bären um 12:30 gefüttert. Bekommen, zur körperlichen Ertüchtigung und zur Belustigung des Publikums, Früchte und Trockenfisch in die Bäume gehängt.

Der zweihundert Kilo schwere Tilo war missmutig. Spürte die Spannung in der Luft wie mein Schwiegervater. Drehte schweigend seine Runden. Vertrieb Spatzen und Stadttauben.

W. war, als ich ihn anrief, bereits in Bernau. 
Donnerstag, Juni 09, 2005
  Fünfräppler .

In der Schweiz soll, lese ich heute in der gestrigen Basellandschaftlichen Zeitung, das kleinste Geldstück abgeschafft werden. Der goldfarbene „Fünfräppler“. Ich frage mich, warum. In Deutschland ist nach der Einführung des Euro das geplante Umgewöhnen in den Köpfen und Fingern der Kauffreudigen – weg von der Ein- und Zweicentmünze – nicht gelungen. Unter anderem wegen der 69- und 28-Centpreise von Aldi, Penny, Lidl und wie sie alle heißen.

Beim Tai Chi haben wir heute die Form abgeschlossen. Das Ende von Teil drei kam so plötzlich, dass wir alle ganz verdutzt dastanden und fast bedauernd unsere sinkenden Hände aus den Augen verloren. Seit zweieinhalb Jahren lernen wir die dreiteilige Form im sogenannten authentischen Yang-Stil. Erde, Himmel, Mensch. Was immer das heißt. Aufrichtung wie ein Baum. Ausdehnung wie ein Ball. Und jetzt sind wir durch. Nach den Sommerferien fangen wir wieder von vorne an. Vertiefungsstufen. Yin-Yang. Armspirale. Beinspirale. Halsspirale. Wir möchten es alle nicht mehr missen.

In Isliberg erschlug ein Mann seine Frau und seine zwei Kinder mit massiven Hammerschlägen auf den Kopf in der Nacht im Schlaf. Am Morgen stürzte er sich von der Lorzentobelbrücke 60 Meter tief in den Tod. Die Familie, heißt es, sei vor vier Jahren, als das jüngere Kind zur Welt kam, in das neue Einfamilienhaus-Quartier gezogen und habe als „Vorzeige-Familie“ gegolten. Als Grund wird „berufliche Überforderung“ des Täters angenommen.

Meine Glarner Großmutter, die uns zu Weihnachten Goldvreneli schenkte, gab uns Enkelkindern einen Satz ins Leben mit: „Wer den Rappen nicht ehrt, ist des Franken nicht wert.“ Mit Erfolg. Ich kriege den Satz nicht mehr aus meinem Kopf. Und mit mir ein paar Millionen Schweizer Kinder.

In Oberiberg tötete am frühen Morgen ein 59-jähriger Schweizer seine 51-jährige Gattin im Treppenhaus eines dreistöckigen Mehrfamilienhauses und anschließend sich selbst im Keller. Mit einem Küchenmesser.

Seit zweieinhalb Jahren verbringen wir Donnerstag vormittag eineinhalb Stunden zusammen. Rhea, der Posaunenspieler Heiko und ich sogar bis zu drei Stunden. Wir setzen uns nach dem Tai Chi ins Café Bilderbuch und besprechen unsere Lage. Die Knieschmerzen. Das Wundern im runden Ellbogen. Den aufgerichteten Beckenboden. Wenn die Ferien anfangen, lassen wir uns betrübt aus den Armen. Rhea aus Maui steigt in die U-Bahn an der Eisenacherstraße. Heiko fährt mit der S-Bahn zu Musikschule. Ich nehme mein Fahrrad.

Das Ende des Fünfräpplers kommt, weil Swissmint sagt, seine „Gestehungskosten“ seien höher als sein Wert. Die Migros fürchtet Aldi. Die Metzger fürchten Aldi nicht. Schweizer Milchbauern, die EU-Land bewirtschaften, können Flächenbeiträge für Futtergraswiesen beantragen. Dafür werden ihnen die Schweizer Subventionen gestrichen. Die EU zahlt pro Hektare Grünland 70 Euro. Die Schweizer Direktzahlungen belaufen sich für im Ausland gelegenes, „angestammtes“ Land auf derzeit mindestens 900 Franken pro Hektare. Also fast zehnmal so viel.

Ich verstehe die Welt nicht mehr. 
Mittwoch, Juni 08, 2005
  Undankbar .

Ich habe einen Großvater in New Holland, einen Meister in Warschau und einen Ehemann in Stralsund. Ich bin emotional abgesichert. Auf der ganzen Welt.

Japan sitzt mir auf. Seit einigen Tagen wieder. Im Ohr. Obwohl ich es gestern in Form einer leeren Haarshampooplastikflasche aus unserem Badezimmer verbannt zu haben glaubte. Japan grinst im Bücherregal. Zwischen Wörterbüchern. Lehrbüchern. Stadtplänen. Reiseführern. Englischer Belletristik und großformatigen Bildbänden. Die Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Publikationen thronen im Arbeitszimmer in Stralsund. Japan hockt im Küchenschrank. Neben Teedosen und Gewürzmühlen. Liegt auf dem Klavier. Im unordentlichen Notenhaufen. In den Shamisen-CDs. Neben Stockhausen und Holst. Hält die halbe Festplatte des Laptops besetzt. Japan wächst. Wie ein Geschwür. In unseren Körpern. W. sagte am Wochenende, dass er die zwei Monate in Tsukuba eigentlich für sein China-Buch gebraucht hätte. Abgabetermin: Ende August. Der Luxus aseptischer Räume und eines sonnenreichen Winters bereitet uns im Nachhinein schlaflose Nächte.

Japan dröhnte in meinem Kopf. Nach meinem Verzicht auf Kyoto. Setzte sich etwas in meinem Ohr fest. Ein unmerkliches hohes, klares Klirren. Ein leises Ticken. Regelmäßig wie das Uhrwerk des asiatischen Swatchimitats am Handgelenk. Mit Aussetzern. Mit dem Verdikt des Professors, ich sei undankbar. Eine unheilvolle Verkettung von Unwille und Unwort.

Ich liebe es, durch eine flache Gegend zu fahren. Dabei kann ich meine Gedanken sortieren. In einer Landschaft ohne Berge. Im Zug nach Stralsund ist mir klar geworden, dass es Japan ist. Das Klirren des Schulmädchenkitsches. An Handtaschen. Rucksäcken. Frau Funcks Gefinger an den Glöckchen ihres Mobiltelefons. Während eines ganzen Abendessens im Ryokan Kikugawa auf Miyajima. Im besten Haus vor Ort. Hätte ich mich doch dort nicht beherrscht und stumm Austern geschlürft, sondern die Kollegin meines Mannes angeherrscht, ob sie denn nicht endlich Ruhe geben könnte. Dann bebte am 16. Februar die Erde in Tsukuba und Japan verstummte sofort in meinem Ohr. Ich erklärte mir das damals so, dass ich das Rumoren der Erde bereits Tage im Voraus gehört hatte. So wie ich ja auch einer Wiese anhören kann, ob sie einsam ist oder nicht. Undankbar. Und überheblich.

Jetzt ist das klare Klirren, sauber wie das ganze Land, wieder in meinem Ohr. Und ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat. Ich warte auf ein Erdbeben. Mein amerikanischer Großvater war ein paar Tage im Krankenhaus. Mein polnischer Meister schreibt seit Jahren nicht mehr. Mein deutscher Ehemann ist fleißig.

Meine Angst vor dem Tod ist eigennützig. Es ist die Angst vor dem Tod anderer. Die Angst davor, allein zurückzubleiben. Überheblich. Und undankbar. 
Dienstag, Juni 07, 2005
  Auf dem Behandlungsstuhl .

Um sieben Uhr in der Früh liege ich ausgestreckt auf dem Patientenstuhl der Zahnklinik. Lasse mir klaglos Zahnstein entfernen und Verfärbungen wegputzen.

Um zwanzig vor sieben sass ich in einer überfüllten U-Bahn Richtung Potsdamer Platz. Dicht gedrängt versuchten alle, sich die tropfenden Regenschirme vom Leib zu halten. Über dem Erdboden ging gerade ein Jahrhundertunwetter nieder. Die Erkenntnis dieses unfreundlichen Junimorgens: Menschen, die Arbeit haben in dieser Stadt sehen keineswegs glücklicher aus als Menschen, die keine haben.

Die Dentalhygienikerin erzählt von den Leiden einer arbeitenden Mutter. Kindergartenplätze für knapp Einjährige gäbe es in diesem Land keine. Ich kann dazu nicht Stellung beziehen. Mein Mund ist versperrt. In meinem Kopf explodieren Geräusche verschiedenster Art.

Um zehn vor sechs stand ich unter der Dusche und wusch mir mit den letzten Tropfen des japanischen Shampoos die Haare. Aus dem Radio plätscherte BBC mit einer Reportage über einen Mann, der 25 Jahre lang zu Unrecht im Knast war. Verhaftet hatte man ihn, als er 15 war. Dann ist er jetzt, ich rechne mit geschlossenen Augen, 40 und frei! Ich habe erst hier begriffen, warum es im 100-Yen-Shop in Tsukuba Plastikaugenabdeckhauben für Kinder zu kaufen gibt. Weil das japanische Shampoo so ätzend ist. Ätzender als alles, was man hierzulande zu kaufen kriegt. Dennoch bin ich sparsam damit umgegangen und habe es mir bis heute aufbehalten.

Gestern in der Badewanne in unserer Stralsunder Wohnung. Das norddeutsche Inforadio berichtet davon, dass in Japan seit 80 Jahren um 6:30 Uhr dieselbe Musik gespielt wird, mit demselben Zweck: Morgengymnastik für alle. In einer modernen Coffee-Shop-Kette wird die bekannte Melodie um 8:30 Uhr in allen Filialen, Fabriken, Bürogebäuden wiederholt. Ein Angestellter sagt ins Mikrophon, keiner würde dazu gezwungen, aber alle machten mit. Eine Frau lacht und bekennt, dass es heute ganz andere Möglichkeiten gäbe, sich fit zu halten, aber die Entspannungsübungen nach der Melodie aus dem Radio seien wichtig, eine Art gemeinsames Ritual am Morgen. Gleich danach würden die Abteilungsleiter zur ersten Sitzung aufrufen. Und ein dritter bekannte, dass er, kaum höre er die Musik, automatisch aufstehe und die Bewegungen mache. Mein Schlafwandlerland!

Im Hirn kracht gerade ein Kratzen an die Schleimabsauggeräusche. Die arbeitende Mutter fragt, ob die Salzlösung zu kalt sei. Ich bewege andeutungsweise meinen Kopf von rechts nach links. Der Mensch hört auch mit den Zähnen. Mit den freiliegenden Zahnhälsen. Mit den Schädelknochen. Dem Hinterhauptsbein. Der Nackenmuskulatur.

Der Regen ist wie weggeblasen, als ich nach einer Stunde auf die Stresemannstraße trete. Ich habe nicht die geringste Lust auf die verdrießlichen Gesichter in der Berliner U-Bahn und gehe zu Fuß nach Hause. Durch die Kochstraße, die Oranienstraße und durch das Engelbecken. Es sind nur noch vier kleine Schwäne da. Im Schilf steht stolz der Reiher, der schon letztes Jahr hier den Sommer verbracht hat. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.

Am Mittag, als ich mir ein Lachsbrötchen zubereite und aus Langeweile auf Deutschlandradio umschalte, höre ich den bereits bekannten Ritualgymnastikbeitrag. Die 80-jährige japanische Tradition turnt sich gerade durch die deutschen Sendeanstalten. 
Donnerstag, Juni 02, 2005
  Ostsee .

Ein gestimmtes Klavier ist wie eine Wohnung nach dem Frühlingsputz. Dennoch fahre ich bereits heute wieder weg. In die ungeputzte Wohnung nach Stralsund. W. braucht auch Zuwendung. 
Mittwoch, Juni 01, 2005
  Der Stimmkeil .

Maria K. sprach schon vor langer Zeit die tröstlichen Worte gelassen aus, dass mein Horoskop ab Juni Besserung verspräche. Also bestellte ich für heute den Klavierbauer, der vor fünf Vierteljahren das hundertjährige Liegnitz in Klötzchen zerlegt unter den wachen Augen des Erzengels in meine Wohnung hineintrug. Er kommt aus Kasachstan. Gestand er mir vorhin in der Küche. Und weiß sich deshalb zu helfen. Er hatte den Stimmkeil in der Werkstatt vergessen, was ihn ziemlich ärgerte, und schnitt mit dem chinesischen Hackbeil meines Privatkochs gekonnt einen gebrauchten Radiergummi zurecht.

Dann stimmt der kasachische Klavierbauer mein Klavier. Immer, wenn ich ihn rufe, kommt er sofort. Nimmt als erstes die vordere Verschalung und die Tastaturabdeckung ab. Zwei Handgriffe und der Brustraum ist offen. Und mein Zimmer sieht aus wie seine Werkstatt. Er schlägt das A an. Prüft den Ton mit dem elektronischen Messgerät. Er ist verstimmt. Zu tief. Wen wundert’s. Er stopft ein rotes Band zwischen die Diskantsaiten am Stimmstock. Damit sie verstummen. Die erste Oktave stimmt er mit dem Gerät. Guckt auf die Anzeige, verfolgt die Schwingung der Nadel. Dreht mit dem Stimmschlüssel an den Stimmwirbeln, bis der elektronisch rote Punkt aufleuchtet. Dann packt er das Ding ein und legt es in seine Ledertasche. Das Ohr hört besser als die Elektronik. Sagt der blonde Kasache und lächelt. Er liebt mein Klavier. Horcht sich hinein in seine Nacktheit. Lauscht den Schwingungen. Der offene Resonanzboden reagiert auf unsere Worte. Ich ziehe mich an meinen Computer zurück. Mache die letzten Korrekturen am Seiden-Manuskript. Bin wieder in Japan. Während sich nebenan die Töne in Reih und Glied stellen. Dem Ohr und der Hand des Klavierbauers gehorchen. Ich hatte am Vormittag endlich meinen dicken Japan-Umschlag geöffnet. Lauter jetzt unverständliche Papiere. Und ein Spuckbeutel von ANA – All Nippon Airlines. Englisch beschriftet. Waterproof Disposal Bag. Tear off to open.

Mein Radiergummi steckt als Stimmkeil zwischen die Saiten. Der Klavierstimmer zieht das rote Band aus den Diskantsaiten, stopft es zwischen die Basssaiten. Mit einem Schraubenzieher. Er geht unzimperlich um mit der Materie. Die ihm vertraut. Er tastet die Töne nach allen Seiten ab. Legt die Saiten, die dabei stören, lahm. Renkt die anderen ein. Er erzählt von einem wunderbaren Bechstein. Der noch unförmiger sei als mein Liegnitz. Noch unmöglicher zu transportieren. In keine Wohnung passen werde. Aber, sagt er, mal sehen, was daraus wird. Der Klavierbauer macht das Klavier. Organisiert die Innereien. Bringt die Mechanik in Einklang mit dem Holzgehäuse. Wieder spricht er vor allem nur vom Holz.

Als die Töne stimmen, zerlegt er das Klavier weiter. Schraubt die Hammerleiste los und hebt die ganze Tastenmechanik heraus. Stellt sie kopfüber auf den Boden. Sucht die Stelle, an der mein Fortepedal quietscht. Er bewegt langsam verschiedene Glieder, die Hebewippe, den Gegenfanger, die Stoßzunge, die Dämpferpuppe. Es quietscht immer noch. Zu wenig gespielt, sagt der Mann, der mein Klavier liebt. Stimmt. Antworte ich verblüfft. Er holt eine Spritze aus seiner Werkzeugtasche, zieht Spezialöl auf. Injiziert. Fein dosiert. Ins Dämpferarmgelenk.

Mein Klavier sieht wieder aus wie immer. Etwas zu antik für unsere Billyregalwohnung. Auf meinem Schreibtisch liegen Korrekturfahnen. Nach eineinhalb Jahren per Post heute aus Polen eingetroffen. Mein Referat für den Konferenzband. Lidka bittet darum, sorgfältig zu lesen, die Zitate zu überprüfen und allfällige Korrekturen mit Bleistift anzubringen. Sie arbeitet mit Radiergummi. Ich werde mich hüten. Papier ist unsäglich.

Den in meiner Küche entstandenen Stimmkeil habe ich Igor geschenkt. 

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