Beim Erzengel
Mittwoch, August 17, 2005
  Urlaub .

Wir fahren weg. Mit ungekämmten Haaren verlassen wir die unaufgeräumten Schreibtische. Vergessen.

In der Wohnung ist die Luft rein. Gestern wurde die Lüftungsanlage im Haus gewartet. Und in jeder Wohnung das Abzugsloch in Bad und Küche gereinigt. Die Abzugshaube abgestaubt. Mit weißem Kunststoff ausgelegt. In der Küche mit einem Metallgeflecht. Damit die Stichflamme aus der Bratpfanne nicht durch den Lüftungsschacht unser ganzes Orwellhaus in Brand setzt. Eine tröstliche Aussage. Den Mann, der sie traf, kenne ich. Er kommt alle Jahre wieder. Immer mitten im August. Wenn alle Nachbarn im Urlaub sind. Er erklärt mir immer wieder mit den gleichen Worten die Wirkung der Lüftungsanlage. Der Schaumstoff, den er auswechselt, ist immer schwarz. Da passiert gar nichts mehr. Sagt der Mann mit der blauen Latzhose. Das ist so, wie wenn Sie das Ding mit Klebstreifen zukleben. Besonders schlimm - seine Zunge löst sich immer nach diesem Punkt - sei das in Wohnungen mit jungen Mädchen. Was soll das heißen? Er strahlt mich an. Ich bin eine alte Frau. Die jungen Mädchen brauchen Haarspray. Ach, sage ich verdutzt. Ist das nicht längst vorbei? Der Spray verklebt den Schaumstoff. Denn die Lüftung saugt das Zeug aus der Luft. Alle sechs Stunden wird die Luft in der Wohnung umgewälzt. Das ist mir zu kompliziert. Sage ich ihm jedesmal. Und er überreicht mir mit einer leichten Verbeugung einen Ersatzschaumstoffstreifen. Gegen Weihnachten, empfiehlt er, auswechseln. Was ich dann auch brav tue. Gestern war er besonders gut gelaunt. Denn die Arbeit kam zwei Stunden früher als geplant zu ihrem Ende und die Männer ins Erdgeschoss. Sag ich doch, beharre ich, alle Jahre wieder, dies ist die ungünstigste Zeit im Jahr für eine Lüftungswartung. Er lacht. Zweiunddreißigtausend. Zweiunddreißigtausend Wohnungen würde er im Jahr "machen". Da kann keine Rücksicht auf Jahreszeit genommen werden. Er verlässt mit erhobenem Zeigefinger meinen Flur. Und meine unfertigen Gedanken. Und meine unausgesprochenen Fragen. Und die unabgestaubten Bücher an den Wänden.

Wir fliegen auf die Insel. In Glasgow soll am Freitag die Sonne scheinen. Ich nehme keinen Regenschirm mit. 
Sonntag, August 14, 2005
  Sonntagsgruß 2 .

Kurz nach Mitternacht. Ich liege im Bett und höre Nachrichten. Ich warte auf das Wetter. Nach dem Wetter lasse ich noch ein paar Minuten verstreichen und das Nachmitternachtsprogramm anlaufen. Bis im Norddeutschen Rundfunk die Wasserstandsberichte heruntergebetet worden sind. Dann rufe ich, wie immer, W. an.

Das Wahlkampfgeschrei eines angeblich „süddeutschen Separatisten“ läßt mich kalt, auch die aufgebrachten Reaktionen darauf. Das betrifft mich nicht. Das Wort „Separatist“ holt aus meinem müden Kopf leider Bilder aus meinem sauberen Heimatland hervor. Grüne Hügel und Pferdeherden. Die Schweizer Separatisten waren Jurassier. Ihnen gelang es, lang ist’s her, sich vom Kanton Bern loszusagen und ihren eigenen Kanton Jura zu gründen. Dadurch entstand eine „bernische Enklave“ – das Laufental. Weitab von Bern, umspült von den Kantonen Jura und Solothurn, dem Halbkanton Baselland und, einem winzigen Streifen Landesgrenze entlang, Frankreich. Zwanzig Jahre nach der Gründung des Kantons Jura schloss sich das verlorene Laufental endlich dem Halbkanton Baselland an. Separatisten sorgen für Rochaden in einem eigentlich festen Gefüge. Der Halbkanton Baselland, in dessen Kantonshauptstadt ich aufgewachsen bin, kann als einziger der 26 sogenannten helvetischen souveränen Einzelstaaten innerhalb der seit 1815 unverändert gebliebenen Landesgrenzen einen Gebietszuwachs (von immerhin 21 %, die Hälfte davon Wald) verzeichnen, ohne Anwendung von Gewalt, ohne Blutvergießen, auf dem Weg einer praktizierten Demokratie. Die Meldung, von der Nachrichtensprecherin mit unverändert emotionsloser Stimme vorgetragen, dass Erika Steinbach ihr umstrittenes Zentrum gegen Vertreibungen in der St. Michael Kirche in Berlin Mitte unterbringen will, reißt mich aus meinen Kinderträumen. Dass dafür das seit 60 Jahren zerstörte Mittelschiff wieder aufgebaut werden soll. Und der Pfarrer, für den zu DDR-Zeiten in Plattenbaumanier eine Wohnung an die erhalten gebliebene Wand des „Querhauses“ geklatscht wurde, vertrieben. Der heutige Tagesspiegel zitiert einen Bistumssprecher: „Solange es sich um eine entwidmete Kirche handelt, ist aus Sicht des Bistums eine Nutzung als Gedenkort vorstellbar“. Heute früh beim Tai Chi hörte ich die Gemeinde singen und beten. Bis vor wenigen Monaten wurden hier auch Gottesdienste in polnischer Sprache abgehalten. Eine polnische Gemeinde hatte es hier immer gegeben. Seit dem Bau der Kirche. Seit der Eröffnung der Kirche. Seit dem Bau der Mauer. Seit dem Fall der Mauer. Der Engel auf dem Glockenturm ist unter anderem der Patron des Deutschen Volkes. Auf dem Ostpreußentreffen im Mai soll Erika Steinbach verkündete haben, man habe eine „wunderschöne Immobilie“ gefunden. Eine Kriegsruine aus rotem Backstein, die jahrzehntelang am Rande des Todesstreifens stand. Neben einem klobigen Wachturm. Niemand kam je auf die Idee, das Mittelschiff für lebende Menschen wieder aufzubauen. Das Plattenpfarrhaus ist Gott sei Dank von außen nicht zu sehen. Und jetzt, wo Schwäne im Engelbecken heranwachsen, die Reiher sich mit den Enten arrangieren, das Schilf in den Himmel schiesst und im Café am Engelbecken bei schönem Wetter sich die ganze Welt trifft, jetzt soll die Kirche als „Zentrum gegen Vertreibungen“ wieder rekonstruiert werden?

W. hat sich die Zeiten des Ostseehochwassers gemerkt. Er erzählt mir, wie immer, eine Gutenachtgeschichte. Ich falle augenblicklich in einen tiefen Schlaf. Ich träume, dass ich in Krakau mein Zimmer beziehe. 
Sonntag, Juli 24, 2005
  Sonntagsgruss  
Dienstag, Juli 19, 2005
  Das zweiäugige Pferd
Mein Großvater Paul hat mein einäugiges Pferd geheilt. Mit sicheren Fingern. Warmer Hohlhand. Geduld. Und oberaargauischberndeutschem Gemurmel. Das Stirnfellhaar fiel allmählich aus. Die Haut über dem neugierig springenden Augapfel wurde fahl und spröde. Paul schmierte sie täglich mit Hirschtalg ein. Und beugte so Verletzungen der Kranzgefäße vor. Die Stirn durfte nicht platzen. Die Äderchen nicht bluten. Die Haut musste weichen. Und als erstes stacheligen Pferdewimpern Platz machen. Als der glänzende Augapfel hervortrat, dunkelbraun und unergründlich, schlug das Pferd erschrocken aus und galoppierte davon.

Das zweiäugige Pferd vollführt wilde Sprünge. Seine Welt hat sich geweitet wie der untere Stirnhautlappen. Es ist rücksichtslos und schreckhaft geworden. Es wirft seinen alten Pfleger immer wieder ab. Undankbar und verwundert. Seit es mehr sieht, hört es weniger. Die Morgenritte sind Paul nicht mehr zuzumuten. Das Pferd scheut bei allen Überraschungen, auch jenen, die von links kommen. Der Rücken meines Großvaters ist krank. Die Kraft seiner Hände erschöpft.

Die Welt ist wie ein Buch und hat mehr als zwei Seiten. Mein Pferd ist umgezogen. Und stampft nun ungeduldig in seiner Koppel in Schönefeld. Sonja berichtet, die Felder seien bereits abgeerntet. Viel Platz zum Traben vorhanden. Die anderen Pferde allerdings, obwohl aus Island, Irland, Tirol, Russland, Polen und allen deutschen Bundesländern, verhielten sich zickig gegenüber dem Zugereisten.

Warum soll es Pferden besser ergehen als Menschen? Das Leben ist eine rein sprachliche Angelegenheit. Mein zweiäugiges Pferd muss im Chor wiehern lernen. Ich muss reiten lernen und mich um die gebrochenen Knochen meines Großvaters kümmern. Kürzlich fragte mich die Verkäuferin am Brotstand bei Kaiser’s, woher ich denn käme. Ich kaufe seit sechs Jahren hier mein täglich Brot. Denke ich. Unlauterer Wettbewerb. Aus Bayern? Sie lacht und ist am frühen Morgen bereits bestens gelaunt. Weil viele Menschen anstehen, die noch nicht gefrühstückt haben. Die frischen Schrippen purzeln brennendheiß aus dem Ofen. Die Papiertüten, in die sie gesteckt werden, verglühen auf der Stelle. Seit neuestem müssen wir Spitzbrötchen verlangen. An der Brottheke bei Kaiser’s. Es wimmelt hier von Zugezogenen. In der ehemaligen Luisenstadt. Es hängt nur von der Aussprache ab, ob wir verhungern oder nicht.

Mein zweiäugiges Pferd ist in Schönefeld angekommen. Mein Großvater in Pennsylvania braucht Zuspruch. 
Donnerstag, Juli 14, 2005
  Strandpartie .

Berlin ist auf Sand gebaut. Auf rieselnden märkischen Sand. Berlin hat keinen festen Untergrund. Berlin ist offen und reich an natürlichen Sandstränden. An vielen fließenden und stehenden Gewässern. Natürlichen Strandbars und Badeseen. Angefangen vom Großen Wannsee und Großen Müggelsee im Süden bis hin zum Plötzensee, Weißen See, Schäfersee, Waldsee, Heiligensee, Hubertussee, Malchower See, Laßzinssee, dem Badesee Arkenberge und wie sie alle heißen. Stecken überall Füße im Sand.

Trotzdem wurden diesen Sommer ein paar hundert Tonnen Sand in die historische Mitte Berlins gekarrt. Eineinhalb Meter hoch aufgeschüttet auf dem leeren Platz vor dem asbestbesetzten Palast der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Ausgerechnet hier musste die diesjährige Beachvolleyball-Weltmeisterschaft stattfinden. Mit Blick auf den Berliner Dom, den Lustgarten, einen Springbrunnen (immerhin), auf das alte Museum, eine oder zwei echte Schinkelkirchen und auf die unzerstörbare Fassade eines Hauptstadtrepräsentationsbaus eines nicht mehr existierenden Staates. Umtost vom Berliner öffentlichen und privaten Verkehr.

Es ist zur Mode geworden, im Sommer Lastwagenweise Sand in Europas Großstädte zu kippen. Während der Großen Ferien sperren fürsorgliche Stadtväter mehrspurige Schnellstraßen im Zentrum, möglichst am Fluss entlang führende natürlich, und bauen den Daheimgebliebenen einen kilometerlangen Sandstrand vor die Nase. Mit allem was dazugehört, Liegestühlen, Hängematten, Sonnenschirmen, Brunnen mit Trinkwasser, meterlangen Wasserzerstäubern, Spielplätzen, Kletterwänden, Boules-Feldern, Promenaden, Kuss-Alleen, Cajpirinja-Buden, Sand und Palmen. So verwandelt sich in Paris die Schnellstraße „Georges Pompidou“ am rechten Seine-Ufer, gegenüber der Ile-de-la-Cité, auf 3,5 Kilometern in „Paris Plage“. In Brüssel nennt sich der Stadtstrand an der Senne lapidar „Bruxelles les bains“. In Prag wird Sand entlang der Moldau im südwestlich gelegenen Stadtviertel Smichov verteilt. Wien besitzt auf der Donauinsel den längsten natürlichen Stadtbadestrand (42 Kilometer) innerhalb einer europäischen Großstadt. An der Alten Donau können sich zudem Nudisten auf mehreren zusätzlichen Kilometern im Sand ausbreiten. Rom schüttet auf bescheidenen 180 Metern Länge und sechs Metern Breite Fluss-Sand hinter der Piazza Navona am Tiber auf, rechts und links des „Ponte Umberto I.“ Und so weiter und so fort.

Menschen aus richtigen Sonnenländern lachen sich halbtot. Ihre Flüsse vertrocknen im Sommer. Und die Mittagspause verbringen sie lieber hinter geschlossenen Fensterläden. Umweltforscher warnen vor Turbulenzen im solaren Magnetfeld und irdischen Löchern in der Ozonschicht. Und Dermatologen haben herausgefunden, dass fast alle Sonnenschutzmittel schädlich sind.

Die Berliner schert das wenig. Millionenteure Sandanschaffungsmassnahmen kann sich die Stadt eh nicht leisten. Und ein verordnetes Stadtstrandleben mit Öffnungszeiten, Eintrittsgeldern, Absperrungen, Badetaschenkontrollen, Sichtblenden, Glasflaschenverbot und Abendkonzerten hat hier keine Chance. Ein paar Kübel Sand reichten aus, um unter den Fenstern des Bundeskanzleramtes den Bundespressestrand zu eröffnen. Wer seinen nackten Bauch in die Sonne streckt, trägt erwiesenermaßen keinen Sprengstoffrucksack auf dem Buckel. Das wussten schon die Erbauer des asbestverseuchten Palastes der ehemaligen Republik: nackte Menschen in diesem Land sind harmloser sind angezogene. Und so schießen sie aus dem märkischen Sand wie Brennesseln, die Beach Bars und Playa Paradiese King Kameamea, Cocktailfactory Zeitlos, Oranke Orange, Karma Beach, Heinz Minki, Europabar am Oststrand, Freischwimmer und wie sie alle heißen. Früher (letztes Jahr oder vorletztes) war es noch so, etwa in der Strandbar Mitte, dass „voll“ war, wenn alle Liegestühle besetzt waren. Heute hockt man sich unbekümmert in den Sand. Auf das verdorrte Gras. Auf harte Ufersteine. Die neuen Strandbars duften wie eine Alpwiese. Sie kennen keinen Konsumzwang. Keinen Liegestuhlzwang. Keinen Tischplatzzwang. Man darf sich selbst bedienen an den vorhandenen Bars. Jeder kann aber seine eigene Kiste Bier mitbringen. Kindergeburtstag feiern. Torte aufschneiden. Ferkel braten. Sand ist meist irgendwo noch vorhanden, aber längst nicht mehr einzig identitätsstiftend für das Berliner „Füße-in-den-Sand-stecken“-Gefühl. Im Kiki Blofeld an der Köpenicker Straße hinter dem Autohändlerhof hängen Kristalllüster in den Bäumen. Stehen schwere Designer Möbel auf dem Dach eines Bootsunterstandes. Unten kann man, wenn es regnet und die Spree nicht gerade Hochwasser führt, in Plüschsesseln versinken oder auf roten Teppichen wandeln. 
Montag, Juli 11, 2005
  „Die Wand“ .

Ich bin seit Tagen antriebsschwach. Hatte Papierkram zu erledigen. Und Papierberge zu verschieben. Durch die ganze Stadt. Und durch das halbe Leben. Durch jenes halbe Leben, das hier ausgespart wird. Papier hat in meinem Fall nichts mit Schreiben zu tun.

Samstag Nacht, während einer trübsinnigen Rückfahrt vom Grunewald mit diversen Pendelzügen, fing ich „Die Wand“ an. Ich musste lesen, um mich zu beschäftigen. Um meine Augen auf etwas zu fixieren. Um dem Ekel in den schmutzigen S-Bahn-Zügen keine Chance zu geben. Auf mein ausgezeichnetes Abendessen.

„Die Wand“, ein Roman von Marlen Haushofer, erstmals erschienen 1963. Eine Frau tötet einen Mann – alles andere ist unwichtig. Sie erschießt ihn mit dem Jagdgewehr. Sie kennt ihn nicht. Hat nie ein Wort mit ihm gesprochen.
Auf über zweihundert Seiten lernen wir die Frau kennen, die sich in einer Ausnahmesituation befindet: der Rest der Welt ist von einem Unglück getroffen worden. Die Frau ist eines Morgens in einer Hütte in den Bergen von einer unsichtbaren Wand umgeben und scheint die einzige Überlebende zu sein. Außerhalb der Wand, das kann sie sehen – denn sie hat Augen im Kopf und besitzt ein Fernrohr, Bergschuhe, eine Jagdflinte, diverse Vorräte und klettert die Ränder der Wand ab, steigt auf Aussichtspunkte – gibt es kein Leben mehr. Ihr Hund Luchs ist bei ihr, eine trächtige Katze läuft ihr zu, ebenso eine trächtige Kuh. Die Streichhölzer, rechnet sie aus, würden für fünf Jahre reichen. Sie setzt Kartoffeln, Bohnen, trinkt Milch, entdeckt im Wald Himbeeren und Winteräpfel. Holz ist für die ganze Ewigkeit im Wald vorhanden. Die Kartoffeln reichen nicht für Hund und Herrin. So erlegt sie, widerwillig, Rehe. Die Kuh bekommt einen Stier. Zwei Sommer verbringen sie – immer innerhalb der gläsernen Wand – auf der Alm. Am Ende des zweiten Sommers, auf Seite 223 erschlägt ein Mann am Abend auf der Almwiese mit einer Axt den Stier. Die Frau war den ganzen Tag mit Luchs unten im Tal gewesen. Hatte die Wiese neben ihrer Hütte gemäht. Gras für den Winter getrocknet. Als sie mit dem Hund hochkam, war der Stier tot. Und der fremde Mann stand neben ihm. Luchs sprang dem Mann an die Kehle. Der Mann erschlug den Hund. Die Frau erschoss den Mann.
Auf Seite 226 endet der Bericht. „Es ist kein Blatt Papier übriggeblieben“.

Ich fing an zu lesen, um meinen Magen zu schonen. Das Klebrige am Boden, die zerkratzten Fensterscheiben, die schmierigen Griffe, die aufgeschlitzten Sitze nicht zur Kentnis zu nehmen. Es ist alter Dreck. Uralter Dreck. S-Bahn-Waggons werden nie geputzt. Heut früh entdeckte ich, als ich den Müll in den dritten Stock trug, dass auch in unserem Orwellhaus am Wochenende ins Treppenhaus gekotzt wird. Wohin auch sonst. Die Müllabwurfstelle im zweiten Stock meide ich und steige schnaufend mit meinem Eimer immer noch eine Treppe höher. Denn sie ist versaut. Und verstopft. Seit wir hier eingezogen sind.

„Die Wand“ hat mich einen Tag lang nicht mehr losgelassen. Ich las das Buch unter dem Erzengel aus. Spürte das Grausen. Im kühlen Erzählen einer Frau, die an den Tod nur glaubt, wenn sie ihn sieht. „Weil ich den Tod meiner Kinder nicht gesehen habe, bildete ich mir ein, sie wären noch am Leben. Aber ich sah, wie Luchs erschlagen wurde. Ich sah das Hirn aus Stiers gespaltenem Schädel quellen ...“ Der Mann hingegen interessiert sie nicht. Weder tot noch lebendig. „Was immer er auch gewesen sein mochte, jetzt war er nur tot.“ Sie lebt in einer gewissenlosen Welt. In einem rechtsfreien, nur zum Himmel hin offenen Raum. Nur eine Frage beschäftigt sie noch: „Ich möchte wissen, warum der fremde Mann meine Tiere getötet hat.“ Weil sie nicht mit dieser Frage im Kopf den ganzen Winter am Tisch sitzen mag, fängt sie an, ihren Bericht niederzuschreiben. Auf die Rückseite von alten Kalenderblättern und auf vergilbte Briefbögen. Bis alles Papier ihrer Welt vollgeschrieben ist. Und die Frage „Ich möchte wissen, warum ich einen Mann getötet habe“, nirgends mehr Platz findet. 
Montag, Juli 04, 2005
  Das eindimensionale Ich .

Ich war ein paar Tage in Stralsund. Habe im Sund gebadet. Mir einen unschuldig goldenen Teint geholt. Beim morgendlichen Tai Chi am Wasser. Und finde jetzt bei der Rückkehr auf dem Schreibtisch eine alte Frage von W. Hingeworfen auf die Schreibunterlage. Wahrscheinlich während eines nächtlichen Telefongesprächs.

Unser Gedankenaustausch ist natürlich gestört, weil wir uns oft zwei, drei Wochen gar nicht sehen und dann wieder 5 Tage und Nächte am Stück zusammen sind. Dadurch geraten wir leicht aus dem Häuschen. Und vergessen schon mal die wichtigsten Dinge des Lebens. Wie Wohnungsschlüssel. Kreditkarten. Oder Pinguine.

Irgendwann, wahrscheinlich von einer Konferenz, einem Hotelzimmer oder einem Flughafen dieser Welt aus, hat mich W. nachts aufgeregt angerufen, weil ihm gerade in jenem dunklen Moment aufgegangen war, dass das Englische für „Ich“ zwei Begriffe kennt: „I“ und „me“. Dass das englische Ich mehrdimensional ist. Im Gegensatz zum deutschen Ich. Welches immer nur eintönig Ich ist. Dass man im englischen mit „I“ eher aus dem Innern spricht, mit „me“ hingegen eher aus dem Äußern. Was immer das heißt. Das Veräußerlichte, Abstrakte. Ich. Aus der Distanz. Betrachtete. In der Höflichkeit. Ich. Durch die Verfremdung. „It’s me“. Das Entfernen von sich selbst. Und immer noch „ich“ meinen. Oder sein wollen. Was weiß ich.

W. wollte damals – wie lange mag das bloß her sein? – in seiner vollmondnächtlichen Euphorie von mir wissen, ob es das im Deutschen auch gäbe. Eine gespaltene Ich-Aussage. Eine kreative Ich-Perspektive. Das Ich als Raum. Mehrdimensional. Mit Ecken und Kanten. Schärfen und Spitzen. Oder im Polnischen. Ich war überrumpelt. Aus meinen Gedanken gerissen. Ich hatte bestimmt gerade wieder einmal in Japan geweilt. Meine Nachtspaziergänge absolviert. Auf einer Straßenkreuzung in Toyama auf den Kuckucksruf gewartet. Ich wollte meine schwarzen Schuhe putzen. Da ist mir ein „portable premium liquid shoe polish black“ in die Finger gekommen. Made in Korea. Aber gekauft im Hundert-Yen-Shop in Tsukuba. Wessen Hände steckten noch vor Ostern in Berlin alles aus unseren Koffer in die richtigen Schubladen? Keine Ahnung. Sage ich perplex. Darüber muss ich nachdenken.

W.’s Nachbar in Stralsund ist blind. Und wohnt mit seiner sehenden Frau im Erdgeschoss. Wir im dritten Stock haben Aussicht über die Schrebergärten auf den Sund und auf Rügen. Am frühen Abend sehen wir die Hiddenseefähre übers Wasser Kurs auf die offene Ostsee nehmen. Beim Abwaschen blendet mich die untergehende Sonne noch um halb zehn Uhr abends. Um Mitternacht leuchtet am Horizont immer noch ein poesieblauer Lichtstreifen. Für uns Sprachlose im dritten Stock. Wo ist das englische „me“ in der deutschen Sprache abgeblieben? Der Nachbar unten sieht gar nichts. Ich fragte ihn, als er einzog. W. fand meine Frage taktlos. Ich aber wollte es wissen. Ob er die Stufen zählt. Oder sieht. Als Schatten. Ob er mich erkennt oder meine Stimme. Er weiß, wieviele Schritte er bis zu seinem Briefkasten zu gehen hat. Ich weiß das nicht. Ich habe keine Ahnung, wie viele Stufen mich im Fahrradkeller von meinem Schlafzimmer im dritten Stock trennen. Gestern früh sah ich ihn entschlossenen Schrittes das Haus verlassen. Die Frau am rechten Arm. Statt des Blindenstocks. Die Badetasche am Rücken. Auf dem Weg zum Strand. Ich bin sicher, er führte die Frau. Ich bin sicher, er weiß genau, wieviele Schritte sie beide auf geteertem Boden tun, bevor sie Sand erreichen. Nicht sie. So bestimmt habe ich noch nie jemanden die Welt am Sonntag durchschreiten sehen.

Das eindimensionale Ich. W. und ich sind kein eingespieltes Paar. Du blind. Ich Blindenstock. Oder umgekehrt. Wir haben keine eingespielte Sprache. „I“. „Me“. „Ich“. „Ja“. Ich denke immer noch über das „Ich“ bei Konwicki nach. Er spricht mit mir und ich sage verständnislos: „du kannst ruhig deutsch mit mir sprechen“. Die wichtigsten Fragen stehen unbeachtet auf der Schreibtischunterlage. Ich denke über eine literarische Konstruktion des Ich nach, ganz gleich welcher Sprache. Ein „Ich“-Erzähler kann weder im Englischen, Deutschen, Polnischen oder Japanischen allwissend sein. Im Gegensatz zu allen Ich‘s, die wir alltäglich auf der Straße, in der U-Bahn, im Regionalzug, antreffen und die leicht alkoholisiert bereits am frühen Morgen verkünden: „Ich? Ne!“ oder „Ich? Denkste!“ oder „Ich? Mit mir nich!“

Der Ich-Erzähler in einem Roman kann nicht allwissend sein. Das versuchte ich einmal einer Handvoll Studenten der Polonistik beizubringen. Keiner hat mich verstanden. Ein Ich-Erzähler kommt nicht aus seiner Haut. Nicht aus seiner Perspektive. Nicht aus seiner Sprache. Heraus. Ein Ich-Erzähler kann nichts wissen über die anderen Figuren, geschweige denn über die dargestellte Welt. Er kann nur mutmaßen. Subjektiv. Und mal falsch, mal richtig interpretieren. Letztendlich muss sich aber der Ich-Erzähler irren. Der Dramaturgie wegen. Denn über ihm steht – unweigerlich – der Autor. Und der hat seine eigenen Interessen. Seine eigenen Dimensionen. Der Ich-Erzähler ist eine zum Scheitern verurteilte Kreatur.

Und doch. Wenn Konwickis literarische Figur von sich behauptet „Ich heiße Piotr, weil ich in dem Jahr geboren wurde, in dem alle Mädchen auf den Namen Agata getauft wurden und alle Jungs auf den Namen Piotr“, dann hat dieses Erzähler-Ich ein erweitertes, allgemeines Bewusstsein.

Ich warte auf ein Gewitter. Die Wohnungsschlüssel wird mir W. per Post nachschicken. 

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