Beim Erzengel
Sonntag, April 10, 2005
  „Daremo shiranai“ .

Die ersten Schritte zurück. In eine unauffällige Existenz. Ich war beim Frisör. Trank Latte Macchiato im Café Bilderbuch. Kaufte die erste Tageszeitung. Wir gingen ins Kino.

Irgendwann kommt immer der Tag, an dem die Haare einfach unausstehlich sind. Und das Bedürfnis, sie zu schneiden, dringlich wird. Unaufschiebbar. Diesmal trat als beschleunigendes Element noch mein Tsukubarot hinzu. Es brannte unsäglich auf dem Schädel. Einmal mehr schwöre ich mir, die Haare nie mehr zu färben. Und sie so lange immer wieder kurz zu schneiden, bis ich das letzte japanische Feuer los bin. Nur etwas steht mir im Moment im Wege: ich habe keine Frisöse mehr. Sie ist aus Berlin weggezogen und richtet Köpfe auf der Mecklenburger Seenplatte. In Bollewick bei Röbel an der Müritz. In der größten Feldsteinscheune Deutschlands. Obwohl ich ihre Adresse (Dudel 1) habe, komme ich da nie hin. Nicht an einem Mittwochvormittag. Wirklich schwierig im Leben einer Frau ist tatsächlich nur, eine neue Frisöse zu finden. Gestärkt durch Tai Chi, Latte Macchiato und Tratsch mit L. über Gott, den Papst und die Welt, hole ich mir am Lausitzer Platz einen Termin. „So bald wie möglich“ sage ich zu dem Mann, der mit seifigen Fingern durch die Haare einer vor ihm liegenden Frau fährt und nickt, seine Kollegin hätte am Nachmittag Zeit.

Das Kino war W.‘s Idee. Ich spiele Schicksal und schlage den Tagesspiegel auf. Wir wissen nicht, was läuft. Wir sind aus dem mainstream gekippt. Es ist nach Ostern. Und wir haben in diesem Jahr noch keinen Film gesehen! Aus der Zeitung spingt ein lachender japanischer Junge. Yuya Yagira. Er sitzt als Akira im Film „Daremo shiranai“ (Nobody Knows) auf dem Karussell. Und ist der Älteste von vier allein gelassenen Geschwistern in Tokyo. Wir schauen uns also Hirokazu Kore-edas vierten Spielfilm an. Zweieinhalb Stunden Japan. Bereits nach einer halben Stunde trommelt W. entnervt auf die gepolsterte Armlehne. Niemand hört es, aber ich sehe es. Die unerträglich piepsende Stimme der Mutter verschwindet irgendwann ganz aus dem Film. Zum Glück für die Zuschauer. Zum Unglück für die fictionbildenden Figuren. Ihre Mutter kommt nicht wieder. Das einzige Vertrauen stiftende Geräusch, das der waschenden Waschmaschine auf dem Balkon, verschwindet auch bald. Die einzige winzige Freiheit für Kyoko, die Zweitälteste. Sie darf auf dem Balkon Wäsche aufhängen. Der Älteste, Akira darf auf die Straße gehen. Die beiden Kleinen müssen sich in der Wohnung verstecken und stillhalten. Dann wird der Strom abgestellt. Und das Wasser abgestellt. Die Wohnung müllt zu, und die Kinder erobern sich die aseptische Straße, den klinisch reinen öffentlichen Raum, den staubfreien Park. Dirigiert von Akira, dem ältesten Sohn und Herrn der Schuhe. Nur wer Schuhe besitzt, kann ausbrechen. Nur wer den Schuhschrank öffnet, besitzt Macht. Nichts überrascht in diesem Film. Es ist alles so, wie wir es kennen. Es passiert nichts. Die Kleinste, Yuki überlebt nicht, sie fällt in der Wohnung vom Stuhl und bricht sich das Genick. Sterben muss in einem japanischen Film das Mädchen. Das ist normal. Was der Film uns sagen will, verstehen wir nicht. Auch das ist normal. Er strapaziert unsere Geduld. Unnötigerweise. Findet kein Ende. Ich habe mich gelangweilt. Zum ersten Mal seit vierunddreissig Jahren. Obwohl außer mir niemand in der Lage ist, das Geräusch der Waschmaschine herauszuhören und seinen Sinn zu verstehen: das kurze Röhren eines brünstigen Hirsches. Die Wäsche wird horizontal und erbarmungslos in der Trommel herumgeschleudert. Sie schwimmt in der scharfen Seifenlauge. Mal nach links, mal nach rechts. Die Struktur aller Naturfasern wird ersäuft. Und zerschlagen. Unsere T-Shirts, Unterhosen und Kniestrümpfe haben sich in zwei Monaten in Luft aufgelöst.

Wir sitzen im Max&Moritz, bis man uns rauswirft. Die Stühle auf die Tische stapelt. Wir können uns noch lange nicht wieder beruhigen. W. dämpft mitten in der Nacht chinesische Teigtaschen. Ihn packt immer der Hunger, wenn ich kotzen könnte. Japan! 
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