Beim Erzengel
Samstag, April 09, 2005
  Das Engelbecken .

Als ich im Frühsommer 1999 auf der nach historischen Plänen wieder erstandenen Grünanlage unter dem herausgeputzten Erzengel Michael stand und unsere neue Wohnung zum ersten Mal von außen betrachtete, zeigte mir W. durch einen Spalt im Bauzaun den grasüberwachsenen Hügel in der Mitte des Platzes.
„Das ist das Engelbecken“, sagte er.
Ich hatte die Mauer im Kopf, nun auch ich. Zehn Jahre, nachdem sie gefallen war. Wie ein Zinnsoldat auf dem Schlachtfeld. Ich hatte ein geteiltes Gesichts- und Gedankenfeld. Und verstand die Welt nicht mehr.
„Das Engelbecken“, fuhr W. ungerührt fort: „das ehemalige Kehrbecken des Luisenstädtischen Kanals. Das Hafenbecken. Es gab Schiffe, die hier etwas anzuliefern oder abzutransportieren hatten. Baumaterial. Märkischen Sand. Rüdersdorfer Kalkstein. Berlin ist aus dem Kahn erbaut worden. Aber auch Fäkalien. Lebensmittel. Kohle. Material für die Kattunfabriken, Messingwerke, Backsteinbrennereien und die erste Neusilberfabrik Berlins.“

Und dann war eines Tages die Welt hier zu Ende. Und niemand brauchte sie mehr zu verstehen. Jahrzehnte lag das Engelbecken als grüner Hügel im Todesstreifen. Aufgefüllt mit Schutt und Bombentrümmern. Wohnungsresten, Lebensresten von Hunderttausenden. Auch die Buchbinderei von W.‘s Großvater, das Zuhause von blonden Zwillingsschwestern, meiner Schwiegermutter Erika und Tante Lisa lag hier begraben.

Noch früher war alles noch anders. Die Oberbaudeputation des preußischen Königs ließ 1848 nach Plänen von Lenné den Luisenstädtischen Kanal als Wasserstraße zwischen Landwehrkanal und Spree ausheben. Er sollte das feuchte Köpenicker Feld entwässern, das Wasser aus den Rinnsteinen ableiten und die Entwicklung des Gewerbes fördern. Vom Urbanhafen wurde in gerader Linie eine Schneise bis zum Engelbecken geschlagen, die dann in einem eleganten Bogen an der Schillingbrücke in die obere Spree führte. Der 20 Meter breite und nur 2 Meter tiefe Kanal war schwer schiffbar. Nur für die Größe des sogenannten Finowkahnes angelegt, erforderte der 90-Grad-Knick am Engelbecken großes Manövriergeschick. Ungünstige Strömungsverhältnisse und die Abwässer der Gegend ließen den Kanal besonders im Sommer fürchterlich zum Himmel stinken. Durch die Entwicklung der Eisenbahn verlor er zunehmend an Bedeutung. Die Reichswasserstraßenverwaltung beschloss schließlich, den Kanal als Wasserstraße aufzugeben. Er wurde 1926 mit dem Tunnelaushub der U-Bahnlinie Neukölln-Gesundbrunnen zugeschüttet. Für die „in aufreibender Tagesarbeit abgehetzten Menschen“ entwarf der damalige Gartendirektor der Stadt Berlin, Erwin Barth, Sondergärten. Dahliengarten, Enziangarten, Narzissengarten, Rosengarten. Immergrüner Garten. Indischer Garten mit weiblicher Bugghafigur. Fliedergarten. Das Engelbecken selbst blieb als Wasserbecken erhalten, hier sollte eine öffentliche Badeanstalt entstehen. Dagegen wehrten sich aber die Katholiken der Michaelgemeinde erbittert. Sie wollten am Sonntag vor den Toren ihres Gotteshauses keine halbnackten Menschenkinder sehen.

Im Herbst, nachdem wir in die neue Wohnung eingezogen waren, transportierten Lastwagen aus Rüdersdorf hektisch alles ab, was das Wasserbecken vor einem halben Jahrhundert zum Hügel hatte werden lassen. Und was vor zehn Jahren noch obenauf geschüttet wurde. Wendereste. Ich beobachtete Wochenlang Baggerschaufeln, die eine lärmende Maschine fütterten, welche Kriegstrümmer und Mauerreste zu märkischem Sand zermalmte. Dieser rieselte auf die Ladeflächen geduldig wartender Lastwagen, die ihn pflichtschuldigst in den Rüdersdorfer Kalksteinbruch zurückbrachten. Die alten Kanalmauern kamen zum Vorschein. Fast unzerstört. Weganlagen. Plätze für Parkbänke. Das Grünflächenamt wollte das entrümpelte Engelbecken in eine pflegeleichte Liegewiese verwandeln. Aber die Natur wehrte sich gegen diese unnötige Simplifizierung. Von einem gewissen Tag im Dezember drang das Grundwasser hoch und ließ sich nicht mehr vertreiben. Die Arbeiter bekamen nasse Füße und trugen Gummistiefel. Das wieder erstandene Wasserbecken wurde behelfsmäßig umzäunt und winterfest gemacht. Die Lastwagen, die bislang immer leer von Rüdersdorf angefahren kamen, kippten nun frische Muttererde und Kieselsteine rund um das Becken. Die Frühjahrssonne würde hier einer tropischen Vegetation auf die Beine helfen.

Seither sind Jahre vergangen. Immer wieder müssen Schmierereien von den alten Kanalmauern entfernt werden. Die Kletterpflanzen überwuchern sie nur zögernd. An der Nordseite des Engelbeckens stehen bis heute Gitterzäune. Die Kanalmauer zur Kirche und zum Erzengel hin war zerfallen und ist nicht wieder rekonstruiert worden. Auch das frühere Kinderplanschbecken nicht. Dem Bezirksamt Mitte fehlen dazu die nötigen Mittel. Bevor wir nach Japan flogen, holzten plötzlich junge Männer das hochaufgeschossene Unkraut an der Nordmauer ab. Schaufelten die Reste von Trümmern weg. Eines Tages im November standen drei Baucontainer vor der zerfallenen Mauer und eine Nachbarin erzählte, darin würde ein Café entstehen. Wir runzelten misstrauisch die Stirn. Packten unsere Koffer. Bestellten ein Taxi. Und fuhren zum Flughafen Tegel.

Das Café am Engelbecken ist mittlerweile eröffnet. Die Baucontainer sind in der Farbe der Backsteinmauern gestrichen. Rostrot. Und nicht wieder zu erkennen. Über dem zerfallenen ehemaligen Planschbecken liegt eine massive Holzbühne. Darauf sitzen Spaziergänger, Familien, Einzelgänger, Überläufer aus Kreuzberg mit oder ohne Kinder am Nachmittag am Wasser in der Sonne. Stolpersichere Wege sind von beiden Seiten angelegt und in der Nacht beleuchtet. Eine Initiative von mutigen Kunststudenten. Mutmaßen wir. Als wir zum ersten Mal, noch vor Ostern, noch mit aseptischen japanischen Innenräumen auf der Seele, dort am Abend ein Glas Wein trinken. 
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