Beim Erzengel
Freitag, April 29, 2005
  Das Fahrrad am Fahnenmast .

Gestern abend im Bundesrat. Ausstellungseröffnung „Frühling im Herbst“. Maria K. hatte eine Einladung für zwei und nahm mich mit.

Wann kommt man schon in den Bundesrat, das ehemalige Preußische Herrenhaus? Wann kann man schon im Plenarsaal auf Sitzen von Ministerpräsidenten und Ministern sitzen (wir hatten die des Saarlandes inne) und Chopin (während der Redepausen) sowie Reden (Begrüßungsansprache, Grußwort, Festvortrag, Einführung in die Ausstellung) lauschen? Wann kann man schon mit einem Glas Sekt in der Hand in den Wandelhallen stehen bleiben? Rebecca Horns „Drei Grazien“ bewundern? Und ab und zu ein Häppchen von den Silbertabletts greifen?

Die Ausstellung – „Frühling im Herbst“. Vom polnischen November zum deutschen Mai. Das Europa der Nationen 1830-1832 – interessierte uns mäßig. Maria K. hatte sie schon in Leipzig gesehen und ich fühlte mich allein schon von deren Titel erschlagen. Außerdem beriefen sich die Redebeiträge immer wieder auf die „Aufständischkeit“ (oder Aufständigkeit?) Polens, was mir sowohl deutsch wie polnisch (powstańczość) schwer zu schaffen machte. Ich brauchte ein Glas Wein. Und Maria K. war hungrig. Die Bewirtung ließ anfänglich zu wünschen übrig. Miniportionen Bigos im Brotteig, Moccatässchenweise klarer Barszcz mit Schnittlauch. Lech und Tyskie vom Fass. Erst als die Massen sich verzogen hatten, wurden Fischfilets mit Dillgemüse (köstlich!) aufgetragen. Kaviarhäppchen auf Rösti (ein fast helvetisches Wunder!). Polnische Kabanosi. Heringstückchen mit roher Zwiebel. Und Süßigkeiten. Zum Glück hatten wir ausgeharrt. Am Stehtischchen eines entfernten Schriftstellerkollegen, der mich (Maria K. unterhielt sich derweil angenehm mit seiner Begleiterin) mit Fragen löcherte wie „Sagen Sie mal, was sagen Sie denn zum Gombrowiczjahr in Polen?“ Oder: „Sagen Sie mal ... (nachdem ich ihm dreimal erlaubt hatte, mich zu duzen) ... gibt es eigentlich eine gute polnische Grammatik?“ Und, nach einer längeren Pause: „Sagen Sie mal, stimmt es, dass die Posener Dichter im Schatten der Warschauer und Krakauer stehen?“ Draußen war es immer noch nicht dunkel geworden. Der Akkordeon-Spieler spielte polnische Volkslieder. Ein einziger Mann, weißes Hemd, Schlips, dunkler Nadelstreifenanzug sang wehmütig mit. Mit voller Stimme. Die Beine ausgestreckt. In einem der wenigen Ledersessel. Es sind keine Polen hier. Sagte Maria K. Die würden jetzt alle singen. Und die Grazien der Rebecca Horn „im nie genutzten Raum über der Hallendecke“ in Trance versetzen.

Zum Abschied bekamen wir vom Bundesrat eine Plastiktüte geschenkt. Darin steckte der Ausstellungsband mit dem Titel „Polenbegeisterung“, der neben Farbabbildungen sämtliche Grußworte, Redebeiträge, Festvorträge und Pressestimmen der bisherigen Stationen der Wanderausstellung vereint. Und eine Handvoll politische Bildung. In deutscher und polnischer Sprache.

Der Türsteher bat mich, das nächste Mal („wenn Sie wieder den Bundesrat besuchen“) mein Fahrrad nicht an einem der vier Fahnenmaste anzuschließen. Sie hätten eine der Fahnen auswechseln müssen. Und wenn Fahrradschlösser die Stangen umschlungen hielten, bereite ihnen das große Probleme. Über dem Potsdamer Platz hing das letzte Tageslicht. Wir fragten uns, Maria K. und ich, welche der Fahnen denn im Laufe des heutigen Abends hatte eingeholt werden müssen? Die deutsche? Die polnische? Die europäische? Oder die des Landes Brandenburg (da Ministerpräsident Platzeck, derzeit Präsident des Bundesrates, nach Beendigung des Protokolls den Ort des Geschehens unter Polizeischutz verlassen hatte)? 
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