Beim Erzengel
Samstag, April 23, 2005
  Dialoge .

Ich konnte gestern kein Wort aufschreiben. Ich habe sie alle ausgesprochen. Ins Engelbecken gekippt. Den offenen Armen des Erzengels geopfert. Bei schönstem Sonnenschein. Saß ich fast den ganzen Tag im Containercafé. W. war gekommen, am Abend. Und gegangen am Morgen. Mitten in der Nacht sind wir zusammen aufgewacht. Ohne Grund. Wie beim Erdbeben in Tsukuba. Waren wir plötzlich hellwach. Und er sagte vom weiten Ende des Bettes her: „Schön, dass du da bist!“ Und schlief auf der Stelle wieder ein. Ich blieb noch so lange wach, bis mein unsinniger Gedanke fertig war: „Mein Satz!“

Wörter sind Allgemeingut. Sätze auch. Es spielt keine Rolle, wer welches Wort, welchen vollständigen oder unvollständigen Satz ausspricht. Im Schlaf, im Traum, oder beim morgendlichen Zähneputzen. Hauptsache. Das Wort. Der Satz. Steht.

Ich erzählte gestern den ganzen Tag im Café am Engelbecken. Die Hände lagen ruhig auf dem Tisch. Die Finger hatten nichts zu tun. Es gab keine Tasten. Keine schwarzen. Keine weißen. Keine Quartensprünge. Keine Mittagsruhe. Kein Laptop. Kein Liegnitz. Weil ich den Mund bewegte. Die Lippen, die Zunge, die Speicheldrüsen aktivierte. Nur deshalb begriff ich gestern, bei einem Glas Earl Grey, dass ich nur in Fremdsprachen schreibe. Mein mechanisches Sprechwerkzeug formulierte es so, dass meine Muttersprache keine Buchstaben kennt. Und ihre Substanz nicht an die Fingerkuppen veräußern will. Sondern aus Frikativen besteht. Rollende rrrrr liebt. Mir saß jemand gegenüber. Und blickte mich an. Hörte zu.

Ich flog nach Washington D.C. und landete im Bernischen Oberaargau. So kommt es, dass ich mich jetzt nach einem Ort in Pennsylvania sehne. Nach dem Stall meines einäugigen Pferdes. Paul gab sein Einverständnis postwendend per email. Ich adoptiere ihn. Als Großvater. Und stelle ihn ein. Als Pferdepfleger. Paul hat heilende Hände. Und wird das zweite Auge öffnen.

Die Zeit zerrinnt. Ich habe angefangen zu sprechen. Zu lesen. Zu hören. Ich verlasse heute den Balkon. Die Wohnung. Gehe spazieren. Durch das Engelbecken nach Kreuzberg. Und wieder zurück. War auf der langen Buchnacht auf der Oranienstraße.

Die Ungeduld wird größer. Es gibt Texte, die berühren. Die mich packen. An mich herantreten. Und es gibt Texte, die bewegen. Die mich verstoßen. Mich ausschließen. 
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