Beim Erzengel
Sonntag, April 03, 2005
  Die Luisenstadt .

Luise von Mecklenburg-Strelitz heiratete den späteren König Friedrich Wilhelm III. aus reiner Liebe. Sie war eine gute Königin und beim Volk beliebt wegen ihrer Wohltätigkeit. 1802 erhielt das ländliche Gebiet der Köpenicker Vorstadt auf Bitten seiner Bewohner den Namen „Luisenstadt“. Die Luisenstadt entwickelte sich im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts zu einem blühenden Zentrum der Handwerker, die in spezialisierten Werkstätten und kleinen Fabriken Lampen, Metallwaren (von Armaturen für Wasser und Dampf bis hin zu Panzerschränken), Motoren (u.a. den Schlangenrohrkessel), Landwirtschaftsmaschinen, Schreibmaschinen, Glas, Kristall, Porzellan, Konfektion, Nähmaschinen, Pelze, Leder- und Posamentierwaren, Elektroartikel, Schallplatten, Musikinstrumente (von der einfachen Blockflöte bis zum berühmten Bechstein-Flügel), Spielzeug, Papierwaren aber auch Kunsteis, Bettfedern und die Akkordsirene herstellten. In der Mitte des Jahrhunderts wurde der Luisenstädtische Kanal nach Plänen von Lenné als Wasserstraße zwischen Landwehrkanal und Spree gebaut. Er zog sich vom Urbahnhafen in gerader Linie bis zum Engelbecken und im Bogen bis zur Schillingbrücke an der Spree. Friedrich Wilhelm IV., der kluge Sohn der schönen Königin Luise, gab schließlich auch die Erlaubnis zum Bau einer zweiten katholischen Kirche in Berlin, der Michaelkirche. Sie sollte für die vielen Soldaten aus dem Rheinland und die Zuwanderer aus Schlesien unweit des Diakonissenhauses Bethanien, in der Sichtachse des Luisenstädtischen Kanals am Rande des großen Wasserbeckens nach dem Vorbild der venezianischen San Salvatore errichtet werden. Die Fertigstellung des katholischen Gotteshauses erlebte der protestantische König leider nicht mehr, aber seinem Wunsch gemäß wurde es dem Erzengel Michael geweiht – dem Patron aller in der Luisenstadt arbeitenden Handwerker.

Die Teilung der Luisenstadt fand lange vor dem Bau der Berliner Mauer statt. 1920 wurde die neue Stadtgemeinde Berlin gegründet, der Fläche nach die damals größte Stadt der Welt. Ihre Einwohnerzahl nur von New York und London übertroffen. Durch die Neuaufteilung der Bezirke verschwand die Luisenstadt vom Stadtplan, dem neu erschaffenen Bezirk Hallesches Tor, 1921 in Kreuzberg umgetauft, wurde ihr südlicher und östlicher Teil zugeordnet, dem Bezirk Mitte ihr kleinerer, nördlicher Teil.

Am 3. Februar 1945 warfen 937 amerikanische Bomber am hellen Vormittag während anderthalb Stunden ihre todbringenden Ladungen über der auf dem Stadtplan längst ausradierten Luisenstadt ab, über 100 000 Menschen wurden obdachlos, unter ihnen meine heute weißhaarige Schwiegermutter Erika und ihre Zwillingsschwester Elisabeth. Nur der Engel auf dem Kirchturm überlebte unversehrt. Obwohl er seine Pflicht nicht getan hatte. Die Trümmer wurden nach Kriegsende abgetragen und in das offene Becken vor der Kirche, unter die schützend ausgebreiteten Flügel und Arme und Hände des Erzengels Michael gekippt. Die Aufteilung der Stadt unter den vier Mächtigen der Welt besiegelte das Schicksal der Luisenstadt: ihr Kreuzberger Teil blieb im Westen, das Engelbecken im Osten.

Aus dem Trümmerhaufen wucherte Gras und die VoPos konnten schließlich ihren groben Wachturm auf eine wildblühende Bergwiese bauen. Ein strategisch hervorragender Posten. 
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