Beim Erzengel
Sonntag, April 03, 2005
  Die Rückkehr .

Niemand konnte mir sagen, wie das ist. Zurückzukehren. Nach zwei Monaten in Japan und einem halben Monat in den Vereinigten Staaten. Zurückzukehren. In ein Land. In eine Stadt. An eine Straße.
Zurückzufinden zu meiner Meldeadresse. In meinen Aufenthaltstitel.
Ich besitze eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Und eine Wohnung. In diesem Land.

Während des Fluges von Frankfurt nach Berlin, nach einer traumlosen Nacht über dem Atlantik, stieg als erstes das hundertjährige Liegnitz über die Wolkendecke. Ich besitze ein Klavier! Ich hatte in fast drei Monaten nicht einen Gedanken daran verloren. Meine Finger hatten es nicht einen Augenblick vermisst. Liegnitz wartet in meiner Wohnung beim Erzengel! Weil die Türen zu eng waren und die Fenster schmal, wurde es in Teile zerlegt geliefert. An einem frostigen Februartag. Der Klavierbauer trieb die Träger an, Stimmstock, Hammerleiste, Gehäuse, Tastatur, Klaviaturboden, Resonanzboden, Füße ins Haus zu tragen. Dann schickte er sie nach Hause. Sie konnten nichts mehr tun. Ich auch nicht. Er schwitzte, schraubte, klopfte. Mit sanften Händen. Holz arbeitet. Sagte er. Heftig atmend. Egal wie alt es ist. Holz arbeitet immer. So lange es lebt. Empfindet es jeden Wechsel. Der Temperatur. Der Luftfeuchtigkeit. Der Stimmung. Nach einer Stunde beruhigte er sich. Nach zwei Stunden strahlte er. Und reichte mir die Hand zum Abschied. Ich solle spielen. Empfahl er. So viel wie möglich. Die Nachbarn, lächelte er verschmitzt. Müssten eben ausziehen. Ich müsste spielen. Der Stimmstock müsste sich verziehen. Die Saiten. Die Töne. Das Holz. Arbeiten. Unreine Kadenzen seien ein Zeichen dafür, dass das Liegnitz seine Seele rufe. Sie aus anderen Zimmern, anderen Zeiten zurückhole. Sich bei mir inkarniere. Spielen! Wiederholte er mit Nachdruck. Möglichst bis zum Ende der Heizperiode. Dann käme er. Versprach er damals. Und würde es für mich wieder stimmen.

Von Frankfurt aus hatte ich W. angerufen. Er war fröhlich. Ich mürrisch. Er wusste bereits, dass die Maschine aus Washington DC pünktlich gelandet war. Aus dem Internet. Wir hatten Verspätung. Beharrte ich. Mindestens zwanzig Minuten. Ich konnte nicht schlafen. Kinder von indischen Großfamilien weinten die ganze Nacht. Neben mir fachsimpelten ein amerikanischer und ein malaiischer Zahnarzt. Betrachteten faule Zähne in Großformat. Ich legte auf und fragte mich, wozu ich meinen Mann anrufe. Wenn ihm das Internet alles bereits gesagt hat. Und erst dann wunderte ich mich, wie eine Telefonkarte der Deutschen Telekom in meine Handtasche geraten war. Ich hatte automatisch hineingegriffen. Sie automatisch herausgezogen. Automatisch in den Schlitz des Automaten gesteckt. Ich erschrak. Ich war eine japanische Schlafwandlerin geworden! 
Comments: Kommentar veröffentlichen

<< Home

ARCHIVES
April 2005 / Mai 2005 / Juni 2005 / Juli 2005 / August 2005 /


Powered by Blogger