Beim Erzengel
Donnerstag, April 21, 2005
  Fingerübungen .

Erinnerungen kommen hoch. Wie die Hitze aus der linken Ferse. Die Drohung mit der Amputation tut ihre Wirkung. Seit heute Mittag verteilt sich Wärme. Nach oben. Waden, Schenkel hoch, durch den Rücken. In die Schultern. Und wieder hinunter. Durch die Oberarme. Bis in die Fingerspitzen. Ich stehe auf dem Balkon. Und halte Zwiesprache mit dem Engel. Das Fernsehen ist verschwunden. Trotz Nachtfrost sprießt es in den Blumenkästen. Aus der Erde, die ich nicht in den Müllschlucker kippen konnte. Weil ich die Kästen nicht aus der Verankerung heben konnte. Weil ich ein schwaches Weib bin. Oh mein Engel! Ich werde die letztjährige Blumenerde wässern.

Ich setzte mich zum ersten Mal ans Klavier. Und spürte das Chaos. Das mit heute früh auch auf dem Schreibtisch aufgefallen ist. Übereinandergetürmte Papiere. Disketten. Wörterbücher. Telefonnotizen. Flachgedrückte Weltkarten. Ein Zeitungsschnipsel „Tokio. Erste U-Bahn nur für Frauen“. Prospekte. Einladungen. Die ich nicht annehmen kann. Weil ich ein dreibeiniges Lama bin. Papierfotos. Reste der Reise. Eine amerikanische Briefmarke. Unscheinbar. Fahrkarten. Flugscheine. Robert Walser Mikrogramme. Das kleine Welttheater. Uraufführung. Die habe ich verpasst. Die Finger bewahren Haltung über den Tasten. Aber halten keinen Rhythmus ein. Sogar die Tonleitern stocken. Hinauf. Hinunter. Durch alle Tonarten. Die Finger zucken. Hysterisch. Zurück. Wie die Buchhaltungsbelege unter den Bildwörterbuch.

Die letzte Postkarte aus Maui, schreibt meine Schwester aus Allschwil, ist heute eingetroffen. Ich warf sie in Honolulu am Flughafen im Businesscenter in eine Box, von der man mir versicherte, es sei der Briefkasten. Bevor ich mich allein auf den Weg zu meinem Großvater machte.

Die Finger haben noch im Ohr. Das Maschinengewehrgeknatter der japanischen Sprache. Die Fingerbeeren fürchten das Staccato. Das Seelenlose einer Regelmäßigkeit. Die schlafwandlerische Sicherheit. Die Fingernägel sind sauber. Kurz geschnitten. In die Fingerspitzen dringt Fersenenergie. Ich versuche es mit einem Praeludium.

Ich haue auf die Tasten ein. Zuerst am Klavier. Dann am Computer. Höre die CD aus dem zweiten Japanpaket. Zollbefreit angekommen wie das erste. Stockhausen. In meinem Zimmer. Das mit Büchern überfüllt ist, die mich am ersten Tag totschlagen wollten. In meinem Zimmer. Das unordentlich ist wie noch nie. In meinem Leben. In meinem Zimmer. Das sich gegen das Chaos meiner Gedanken nicht wehren kann. Hier tropft Stockhausen wie Balsam. Wie zäher, leicht bitterer Buchweizenhonig aus der Mazowszeebene. Aus den Lautsprechern. Über Bücherrücken. Und Aktenordnerkanten. Erinnerungen kommen hoch. An Appartement 2108. Ninomiya-House. Dezentes beige. Aseptisch wie ein Operationssaal. Großzügig in seiner Leere. Funktionsbereit. Und offen für alles, was von innen kam. Geschlossen für alles, was von außen kam. Es war unmöglich, Stockhausen dort zu hören. 
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