Beim Erzengel
Montag, April 18, 2005
  Heimspiel .

Und dann ist nichts mehr ungewöhnlich.

Pünktlich um sieben Uhr in der Früh dröhnt der Aufsitzmäher durch unsere bereits ergrünte Anlage zwischen den Orwellhäusern. Erst um halb acht beginnen lautlose Hände ihre Arbeit. Säubern Blumenrabatte. Harken Sand auf dem Spielplatz. Ohne Motoren. Ohne Benzin. Ich bin aufgewacht in der Wohnung beim Erzengel.

Nach drei Tagen in Polen und zwei Tagen in Stralsund. Geschieht alles in umgekehrter Reihenfolge. Ankommen. Auspacken. Gähnende Leere im Kühlschrank. Alte Zeitungen im Briefkasten. Ein Umschlag von Aoki-san mit Fotos von Toyama. Wir im dichten Schneetreiben im Stadtpark. Wir zerzaust am Japanischen Meer. Wir mit Regenschirmen. Mal aufgespannt über den Köpfen. Mal schlank an der Seite. Mich fröstelt. Das Außenthermometer zeigt 22° an. Und eine himmelblaue Benachrichtigungskarte. Ein Paket wurde bei Nachbarn im zehnten Stock abgegeben. Wahrscheinlich der Rest unseres Japankrams. Zwanzig Kilo Papier sind bereits zollbefreit angekommen. Auf zehn weitere warten wir noch. Was in Tsukuba so absolut wichtig erschien, steht hier Tage, Wochen dumm im Wohnzimmer herum. Versperrt den Weg zur Balkontür. Den ersten Schritt auf den Engel zu. Ich bin wieder da.

Zwischen Polen und mir gibt es keine Grenze. Ich brachte ein Kilo Kleehonig mit und fünf Kilo Bücher. Sowie Fragen über Fragen. Ich blättere im Historischen Atlas. Warum besitzt das Museum Mittelpommerns in Słupsk die polenweit größte Sammlung von Gemälden, Skizzen und Zeichnungen von Witkacy? Warum trägt die angeblich restaurierte Predigerkanzel aus der Renaissance in der Stadtkirche von Nowogard die Aufschrift „Anno Domini 1929“? Warum gibt es in Słupsk ein Sienkiewicz-Denkmal? Weil auf diesem Sockel früher Bismarck stand, erklärte mir einer der Studenten. Sozusagen als Platzhalter. Bis die Gegend polonisiert und ihre Kirchen katholisiert wurden. Weder Sienkiewicz noch Witkacy hatten irgend etwas mit Słupsk zu tun. Polnische Lokalgrößen gab es nicht. Der Wodka verblieb bei W. in Stralsund, ebenso ein Kilo Lindenhonig und ein hölzerner Fleischklopfer. Unser schneller Abschied an der Bushaltestelle Lilienthalstraße. Bereits wieder Gewohnheit geworden. Straßenkantenküsse.

Die linke Ferse brennt, seit ich vor einem Monat in Tegel gelandet bin. Zuviel Hornhaut, dachte ich und rubbelte mit Bimsstein in der Badewanne. Zu dünne Haut, überlegte ich dann und rieb morgens Sanddornsalbe, abends Vaseline ein. Zuviel Chi, meinte W. in Stettin. Falsch verteilte Energien. Heute sehe ich, dass die Sohle am linken Schuh hinten ganz abgetreten ist. Das gelbe Oberleder schon angegriffen. Von der Straße. Zerfetzt. Ich stelle die roten Lammfellschuhe, die ich in Japan getragen hatte, auf den Kopf. Studiere Sohlen und Absätze. Unauffällig gleichmäßiges Winterprofil. Kaum einen Millimeter abgelaufen. Verdutzt stecke ich die gelben Schuhe in einen Papierbeutel und trage sie zum Schuster. Ich bin weit herumgekommen in den letzten Tagen, erkläre ich im Vorbeigehen dem Engel auf dem Glockenturm.

Im Zug las ich Die Zeit. Zeitläufte der letzten Ausgaben. Deutschland vor 60 Jahren. Ich fuhr durch Greifswald, Anklam, Pasewalk, Prenzlau, Eberswalde, Bernau nach Berlin Lichtenberg. Jenseits der Oder, hatten wir in Polen gehört, zerstörte die Rote Armee nach der Befreiung alle historischen Stadtkerne an der Küste. Mit Ausnahme von Darłowo. Wo ich auch zu Hause bin. Dort gibt es die beste Pizza Polens und das beste Frühstück. Diesseits der Oder, lese ich in den Zeitläuften im fahrenden IC, zerbombte die deutsche Luftwaffe Städte, die sich bereits ergeben hatten. Zum Beispiel Anklam. Oder Eberswalde. Gezielt wurden Geschäfte bombardiert. Deutsche Präzisionsarbeit. Ein prall gefülltes Heeresverpflegungslager. Eine Mühle mit 45 000 Tonnen Getreidevorräten. Nein, es gibt keine Grenze. Des Infernos. Und nicht zwischen Polen und mir.

Kurz vor sieben, versprach der Schuster, könnte ich die Schuhe wieder abholen. 
Comments:
Judith, da hast du einen schnellen Schuster gefunden. Ich könnte dieses Tempo nicht bieten im Moment. Die Arbeit wächst mir etwas über den Kopf! Scheinbar bist du eine Linksfüsslerin und würdest wahrscheinlich in der Wüste oder auf abgelegenem freiem Feld ohne Wegweiser links im Kreis herum laufen. Das kann dir ja zum Glück in Berlin nicht passieren. Und du findest immer wieder glücklich heim zum Erzengel.
Sei herzlich gegrüsst von Frieda
 
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