Beim Erzengel
Samstag, April 30, 2005
  Japan .

Das richtige Grausen überkommt mich erst heute.

Angeblich, hört man jetzt bei uns, übt Japan Rail West großen Druck auf ihre Mitarbeiter aus, um Verspätungen zu vermeiden. Die Shinkansenzüge, beispielsweise, hätten im letzten Jahr eine durchschnittliche Verspätung von 6 Sekunden (!) erreicht. Dies müsse, fordert das Management, im laufenden Jahr entschieden verbessert werden.

Am 13. Februar sahen wir in Tsukuba den Sportbericht nach den englischen Nachrichten. Ai Miyazato lachte in die Kamera, trug ein sonnenblumengelbes Hemd. Sie war gerade Weltmeisterin im Frauengolf geworden. Ihr Vater wurde um eine Stellungnahme gebeten. Schnitt. Ein ausdrucksloses Gesicht sprach in die Kamera: „Ich bin stolz auf meine Tochter, aber sie muss noch viel trainieren, um bessere Leistungen zu erzielen.“ Schnitt.

Angeblich werden Zugführer, die Verspätungen einfahren, zur „Nachschulung“ geschickt. Man zwingt sie in wochenlangem Psychodrill, ihre Schlechtigkeit der Gesellschaft gegenüber einzusehen. Zu bereuen. Sich selbst zu bezichtigen. Immer wieder.

In jedem Japanreiseführer kann man das Sprichwort nachlesen, das den Kindern angeblich am ersten Schultag beigebracht wird: „Auf einen Nagel, der hervorsteht, haut man drauf.“

Angeblich gibt es mehrere Fälle, in denen die „Nachschulung“ mit Selbstmord endete.

Besagter Zugführer verließ den letzten Bahnhof mit eineinhalb Minuten Verspätung. Weil er zu spät gebremst hatte, 8 Meter zu weit gerollt war und den Zug zurücksetzen musste. In Japan sortieren sich die Menschen auf den Bahnsteigen nach am Boden gezogenen, verschiedenfarbigen Linien. Je nach Zugtyp. Je nach Bahngesellschaft. Niemand wartet orientierungslos am Bahnhof auf seinen Zug. Wer in einen Zug einsteigen will, muss an der richtigen Stelle, in der richtigen Farbe stehen. Und um sich richtig einzuordnen, muss man wissen, welche Art Zug man benützen will. Einen mit 5 Waggons, oder mit 7. Doppelstöckig oder nicht. Mit oder ohne Speisewagen. Raucher oder Nichtraucher. Mit oder ohne Reservierung. Von dieser oder der anderen Eisenbahngesellschaft. Und so weiter. Jede Formation hat ihre eigenen Türabstände. Ein Zug, der nur 8 Millimeter neben seiner roten oder gelben Linie am Bahnsteig zum Halten kommt, bringt bereits alles durcheinander. Die Ordnung. Das Leben. Die Welt.

Angeblich war der junge Zugführer erst seit knapp einem Jahr im Dienst. Und hatte bereits eine „Nachschulung“ hinter sich.

Angeblich ist es unvorstellbar, eine zweite „Nachschulung“ zu überleben. Vor einer dritten „Nachschulung“ bittet man freiwillig um Entlassung.

Der Zugführer musste neunzig Sekunden Verspätung aufholen. Schnitt.

Nach drei Tagen barg man ihn in Amagasaki aus dem verkeilten Führerstand. Schnitt. Die kalte Hand am Bremshebel. 
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