Beim Erzengel
Dienstag, April 05, 2005
  Schlaf .

Der Schlaf widersetzt sich.

Stundenlang. Wochenlang. Tagelang. Ich erwache um drei Uhr in der Nacht. Sehe durch die nur halb zugezogenen Seidenvorhänge die dunklen Fenster der Nachbarplattenbauten. Wache Nächte versetzen mich in die DDR. Benommene Nachmittage verbringe ich auf dem Balkon im Angesicht von Schinkels kriegszerstörter Backsteinarchitektur. Vor sechs Uhr kann ich nicht wieder einschlafen. Zwei Nächte lang höre ich W. schnarchen. Dann muss er zu seinem Semester nach Stralsund. Und ich liege die heller werdenden Stunden allein. Mit offenem Mund. Im Bett. Der Mond nimmt zu am Himmel. Das Herz rast im Innern. Magen, Leber, Niere, Galle, Blase, Därme fliehen den Aufstand in den Adern. Treten aus dem Körper heraus. Werden durchsichtig. Und verschwinden glucksend. Im Atlantik. Im Pazifik. Im Japanischen Meer. Die Kopfhaut löst sich in Fluggeräuschen auf. Jeder Gedanke erzeugt seinen eigenen Kondensstreifen.

Wie kompakt war dagegen das Ankommen auf Maui. Nachdem wir Januar und Februar in Japan verbracht. Ich den sonnigsten Winter meines Lebens erlebt. Wir die Datumsgrenze überflogen hatten. Empfing uns eine Insel im Pazifik. Sonntag vormittag. Kahului. Tradewinde. Das älteste Kaufhaus brannte. Ich versank am Abend blitzschnell. In einem bodenlosen Schlaf. Es war schon hell, als mich ein gräßlicher Lärm weckte. Hubschraubergeknatter. Ich suchte es zu verscheuchen. Wie eine lästige Fliege. Meine Hand traf W.‘s Schulter. Ich fragte: „Wo sind wir?“ Er antwortete: „Still on Planet Earth.“ Und schlief seelenruhig weiter.

Berlin. Gleich am ersten Morgen fuhr ich nach Schöneberg zum Tai Chi. Schwitzte bei der geringsten Anstrengung. Schwindel und Fremdheit. Kein Gefühl in den Fersen. In den Ellbogen. Tigermaul. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern. M. bot mir für den zweiten Morgen eine Einzelstunde an. Ich nahm dankbar an. Hoffte, die Bewegungen würden mich zentrieren. Wie eine Tastenkombination die Überschrift über einem Word-Dokument. Der Fahrstuhl war defekt. Ich stieg schnaufend in den fünften Stock. Das Herz gebärdete sich wild in der darauffolgenden Nacht. Ich war allein. Seit drei Monaten zum ersten Mal allein. In der Nacht. In meiner Wohnung. Beim Erzengel. Ich starrte in den Himmel über der DDR. Die zur Unzeit wachen Sinne schärfen das Gewissen. Eine moralische Kategorie, die Asiaten ganz abgeht. Das Herz poltert. Wie beim Aufstieg aus dem Krater. Aus der eisenerzschweren Vulkankuhle. Unter der glühenden Nachmittagssonne. Ich hätte sterben können. Begreife ich jetzt. In der Nacht. Wach. Allein. Zurückgekehrt an die polizeiliche Meldeadresse. In eine Aufenthaltsordnung. Reglos. Die Erinnerung bringt das Blut ins Wallen. Ich hatte Vergiftungserscheinungen. Tagelang einen metallischen Geschmack auf der Zunge. Verbrennungsflecken. Kopfschmerzen. Husten. Der Atem blieb mit mir stehen, sobald ich innehielt. Um nach Luft zu schnappen. Und einen Schluck Wasser zu trinken. Auf dem Weg aus dem Krater hinaus. Zurück. Hinauf. In die Außenwelt. Auf fast 3000 Metern über dem Stillen Ozean. Am zweiten Tag auf der Insel. Mit Japan auf der Lunge. Und einem Zeitloch im Kopf.

Der Schlaf widersetzt sich. Noch lange. 
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