Beim Erzengel
Donnerstag, April 07, 2005
  Sprache .

Die Sprache widersetzt sich.
Die Wörter. Die Sätze. Die Fragen. Die Antworten.

Am Ostermontag saßen wir in Altefähr an der kalten Sonne am Sund. Der Raps blüht noch lange nicht. Unser erster Fahrradausflug. Am ersten nicht vernebelten Tag. Nie wurde ich in Japan so feindselig angestarrt, wie am Ostersamstag beim Einkaufen in Stralsund. Nur weil ich andere Schuhe trage. Behaupte ich trotzig. Und andere Fragen stelle. Wo finde ich denn, bitte, frischen Meerrettich? Der Wind ist scharf wie ein Samuraischwert. Was würden wir anders machen, will W. plötzlich wissen, wenn wir nochmals nach Japan führen?

Ich träumte von der deutschen Sprache. Sie war ein Ding. Ein unförmiger Klotz. Ein klirrend kaltes Gebilde. Mit harten Kanten. Spitzen Ecken. Ungehobelten Seiten. Schmucklos. Farblos. Wie unsere japanische Wohnungseinrichtung: dezent hellbeige. Undurchsichtig und doch verletzend. Ich erwachte mit Schmerzen in allen Gliedern und erblickte Schimmel an der Decke. An der Wetterseite. Das feuchte Klima am Wasser. Der kalte Winter und kein Mensch. Der hier wohnte. Schlief. Heizte. Lüftete. Beim Putzen schlagen mir die Nachrichtenschleifen des norddeutschen Inforadios um die Ohren. Rund um die Uhr. Samstag und Sonntag. Die farblose Präzision der deutschen Sprache. Mit Ausnahme von zehn Minuten täglich. An der Ostsee von 19:50 Uhr bis 20:00 Uhr. Der Ohrenbär. Radiogeschichten für kleine Leute. Unser infantiles Ritual. Das nichts mit Japan zu tun hat.

Nochmals Japan? Mit all den eingesammelten Vorbehalten und Ängsten? Routiniert im 100-Yen-Shop einkaufen, bei Kasumi und am Gemüsestand vor dem Institut? Sich klanglos in den Linksverkehr einreihen? Ich würde Japanisch lernen müssen. Behaupte ich trotzig. Würde mir einen guten Lehrer in Berlin suchen. Einen Mann! Es hieß, man höre den Ausländern an, welchen Geschlechts ihre Japanischlehrer waren. Männer, die sich die Sprache von einer Frau beibringen lassen, geraten schnell in den Verdacht, schwul zu sein. Sie sprechen weibisch.

In Washington DC erwartete mich der Urgroßneffe meiner Romanheldin. Er sprach einen lupenreinen Berner Dialekt. Ich stolperte über mein vergessenes Baselbieterdeutsch. Wie die Boeing durch die Luftturbulenzen über dem Kontinent. Er erzählte, dass er mit 14 von Konolfingen nach New Holland versetzt wurde. Dass es schwierig war. In der Schule. Am Anfang verstand er gar nichts. Dass es aber noch viel schwieriger wurde. Als er nach einem halben Jahr zu verstehen begann.

Nichts würden wir anders machen. Sage ich und fahre nach Berlin zurück. In der U-Bahn, auf den Bahnhöfen, unter der Anzeige, wann der nächste Zug einfährt, die Endlosschleife: „Die BVG trauert um Andreas von Arnim“. Wie das norddeutsche Präzisionsgeschütz. Rund um die Uhr. Werktag und Feiertag. Wer immer dieser von Arnim war, die BVG ist kein Clemens von Brentano.

In der Wohnung beim Erzengel stirbt der Papst. Schon drei Tage vor seinem Tod wird nur noch im Präteritum über ihn gesprochen. Ich höre den Satz, er hätte als junger Mann viel Sport getrieben. Deshalb ziehe sich nun sein Sterben hin. Ich schalte um auf BBC.

Die Sprache widersetzt sich. Sogar der Stummheit. 
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