Beim Erzengel
Dienstag, Mai 17, 2005
  Berlin bleibt bunt .

Bis eben war es kalt. Karneval der Kulturen. Pfingsten. Eisheilige. Mamertus, Pancratius, Servatius, Bonifatius und die Kalte Sophie. Heute das erste Frühstück auf dem Balkon. Mit W. und dem Erzengel.

Bis eben habe ich übersetzt. Heute nachmittag fahre ich nach Warschau. Zurück lasse ich, einmal mehr, den leeren Kühlschrank. Der letzte Sommer war verregnet. Ich übersetzte das Drehbuch zur Verfilmung von Günter Grass‘ Roman „Unkenrufe“ aus dem Polnischen ins Deutsche. Dies ist kein Witz, sondern eine deutsch-polnische Co-Produktion. Vor ein paar Tagen kam der Folgeauftrag per Telefon. Transkription und Übersetzung von zwei Interviews. Für das Buch, das zum Film entstehen soll. Zum Film, der nach dem Buch von Grass gedreht wurde. Wieder kein Witz, sondern eine Werbemaßnahme. Ich willigte ein. Die Termine passen. Die Eisheiligen überlebt man am besten zu Hause am Schreibtisch.

Bis eben brannten die Augen. Die Interviews mit dem polnischen Regisseur Robert Gliński und der polnischen Hauptdarstellerin Krystyna Janda kamen per Post. Auf Tonband. Er redet 32 Minuten, sie 40 Minuten. Hört sich unscheinbar an. Setzt sich um in 20 Stunden Arbeit. Die deutschen Co-Produzenten wollten mir die Interviews auf einer VHS-Kassette liefern. Ich lehnte ab. Am Telefon. Und sagte: „Aus technischen Gründen.“ Unsere Wohnung beim Erzengel ist seit über einem Jahr fernsehfrei. Zum Glück. Denke ich jetzt. Denn ich hätte die 20 Arbeitsstunden auf dem Boden vor diesem unansehnlichen Möbel verbringen müssen. Ich hätte meinen Schreibtisch vor den Kasten tragen müssen. Ich hätte meinen Computer vor dem Ding aufbauen müssen. Es wäre ein Bildschirm vor dem anderen gestanden. Und ich hätte auf den Knien das Videogerät bedienen müssen. Und dabei gucken, wie ich gucken kann. Ich bin nicht mehr in Japan. Ich habe 20 Stunden lang kein Gesicht gesehen. Und dennoch brennen meine Augen. Vom Vor- und Zurückspulen der Tonspur.

Bis eben grübelte ich dieser Idee nach, die mich schon den letzten verregneten Sommer über beschäftigt hatte. Vernachlässigte dabei W., meine Freunde und meinen Großvater in Amerika. Warum, um Gottes Willen, kam Grass auf die Idee, die deutsch-polnische Versöhnung an einem Friedhof zu exemplifizieren? Und warum gefällt ausgerechnet diese Idee den polnischen Drehbuch-Co-Autoren, dem polnischen Regisseur, dem polnischen Fernsehen, den polnischen Co-Produzenten und den polnischen Geldgebern so gut? Krystyna Janda lacht scheu wie ein Reh auf dem Band. In meinem Arbeitszimmer. Und sagt, so oft ich es nur will, so oft ich ihre Stimme zurückdrehe und den Satz nochmals von vorne beginnen lasse, dass sie dieses Thema weder in ihrer Rolle im Film noch als Privatperson interessiere oder berühre. Dass sie ganz andere Dinge bekümmern. Kleinigkeiten, zugegeben. Dass sie beispielsweise schlaflose Nächte habe, weil im Drehbuch festgeschrieben worden sei, dass Aleksandra Piątkowska, die Polin, die sie im Film spiele und durch die sie Polen im Film repräsentiere, 1989 auf der Danziger Werft vor dem Denkmal der ermordeten Werftarbeiter ihre Zigarette von einem brennenden Grablicht anzünde.

Ich fahre nach Warschau. Besuche Tadeusz Konwicki, meinen alten Meister. „Kalendarz i klepsydra“, sein Tagebuch von 1974 erscheint endlich in der unzensierten Fassung. Darauf warten ich und viele andere seit 15 Jahren. Zeit ist relativ. Wieder bin ich eine Woche weg. Am Sonntagnachmittag verbrachten W. und ich ein paar Stunden auf der Hasenheide. Ich erlöste meine Augen vom Tonband und sah tanzende Menschen am Waterlooufer. Karneval der Kulturen. Grasgrüne Luftballons stiegen in den verhangenen Himmel. Von Kindern, die den Faden aus der Hand fahren ließen. Darauf aufgebläht die Worte „Berlin bleibt bunt“. 
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