Beim Erzengel
Donnerstag, Mai 26, 2005
  Erschöpfungen .

Wieder ein Wochenende mitten in der Woche. Wieder Sonntagabendstimmung schon am Donnerstagvormittag. W. kam nach Berlin. Ich aus Warschau. Zu meiner eigenen Lesung.

Das Café am Engelbecken breitet sich aus. Zusätzliche Tische und Bänke wurden zu beiden Seiten der Baucontainer am Rand des Wasserbeckens aufgestellt. Der Uferstreifen befestigt und mit Kies aufgefüllt. Im Wasser wächst das Schilfrohr in den Himmel. Vorgestern sass die Schwanenmutter noch im Nest und brütete. Seit gestern purzeln fünf hellbraune kleine Wollknäuel im Wasser herum. Die Schwaneneltern haben sie ans gegenüberliegende ruhigere Ufer gebracht.

Gestern nachmittag, auf dem Weg zu meiner eigenen Lesung, die Sonne brütete am Himmel wie die Schwänin im Schilfgras beim Erzengel, machten wir einen Ausflug in die Stadt. Wir sind so selten tagsüber zusammen in Berlin. Wir besuchten das Holocaust Mahnmal. Besuchten? Begingen das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. So der offizielle Name. Folgten den Wegweisern vom Potsdamer Platz. Es beginnt am Straßenrand. Und hört in der Hölle auf. Stufen führen zu Notausgängen hinunter. Es hat keinen definierten Eingang, keinen definierten Ausgang. Ist ohne Anfang. Ohne Ende. Ohne Schriftzug. Ohne Portal. Nur in den Boden eingelassen, unscheinbar, übertretbar, die Bronzetafel mit dem „benimm-dich!“. Die Hausordnung für Kein-Haus. Das an jeder Stelle, zu jeder Zeit betreten werden kann. Eisenmans Stelenfeld zwischen dem Brandenburger Tor und dem Potsdamer Platz. Neben der Baustelle, wo unter enormen Sicherheitsvorkehrungen die neue amerikanische Botschaft entsteht. Es soll so groß sein ist wie ein Fußballfeld. Und seit der offiziellen Eröffnung spielen darin nicht nur Kinder Verstecken. Schießen nicht nur Erwachsene Erinnerungsfotos. Setzen sich nicht nur Touristen auf die flachen, am Rand in die Straßenverkehrsordnung ausufernden flachen Stelen. Wie Ruhebänke. Was Opferverbänden bitter aufstößt, Geschichtspflegern und Schambewussten. Wir stiegen hinein in die akkurate Stelenplantage. Hinein in das abschüssige Steingelände. Von außen betrachtet, vom Straßenrand, vom Fahrradstreifen, vom Bürgersteig, vom Tiergarten, vom Heißluftballon, vom Sony-Center, von der Glaskuppel des Reichstages, verschwinden die Besucher. Schnell. Die Besucher? Verschluckt das Mahnmal. Stumm. Die grauen Stelen wachsen über unsere Köpfe. Schmucklos. Kantig. Regelmäßig. Geometrisch. Mit nur leichten Abweichungen. Schieflagen. Das Nichts. Das absolute Nichts. Die Abwesenheit. Von Spuren. Ritzen. Wurzeln. Aber bereits sonnenwarm. Unter der flachen Hand. An einem frühen Hitzetag im Mai. Wie durch ein Wunder bleibt für uns Anwesende die Stadt sichtbar. Und hörbar.

Am Abend las ich in der Abgußsammlung zum ersten Mal „Kein Märchen“ öffentlich vor. Es hat mich so erschöpft, dass ich heute den ganzen Tag kein Wort über die Lippen brachte. W. blieb zwei Stunden länger. Ich begleitete ihn am Mittag taumelnd zum Bahnhof. Und versank danach in tiefen Schlaf. 
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