Beim Erzengel
Freitag, Mai 27, 2005
  Gehirn-Training .

Vor drei Monaten haben wir Japan verlassen. Ich bin also länger wieder außerhalb des Landes als ich je innerhalb war. Trotzdem läßt es mich nicht los.

Bei der Premiere der SCHAM-Anthologie in der Abgusssammlung wurde ein Zitat aus einem Interview vorgelesen. Japaner entschuldigen sich, wenn sie Geschenke verteilen: „Das ist gar nichts, was ich dir da schenke, das ist etwas ganz Schlechtes, entschuldige, dass ich dir das schenken muss ...“. Dahinter steckt, was das Interview in der Anthologie nicht erklärt, der gesellschaftliche Zwang, jedes „schlechte“ Geschenk mit einem „besseren“ zu erwidern. Dies gebietet die Höflichkeit. Und kann ausarten. Man verschenkt aus Verzweiflung schon mal Haus, Hof und das makellos weiße Auto.

Hiroko hatte sich bei mir für das Erdbeben in Tsukuba entschuldigt. Dafür, dass es mir Unannehmlichkeiten bereitet hat, mich aus dem Schlaf gerissen und mein Gleichgewichtssinn für Stunden, Tage, ja vielleicht für immer gestört hat.

Längst bin ich der alten Routine wieder verfallen. Ein paar Tage hier, ein paar Tage dort. Stralsund. W. Berlin. Warschau. Erzengel. Kühlschrank. Computer. Viren. Und so weiter. Überall und immer kann ich mittlerweile wieder schlafen. Nur etwas gelingt mir nicht: der tägliche Weg ans Klavier. Vorsichtig taste ich mich an. Das alte Liegnitz ist verstimmt. Und zu Recht. Ich bin ruhelos. Kann den Klavierstimmer nicht bestellen. Die Finger gehorchen mir nicht. Auf der Computertastatur funktionieren sie. Am Klavier geben sie nicht einmal eine gemäßigte A-Dur-Tonleiter her. Geschweige denn einen D-moll-Akkord. Musik ist, lese ich heute in einer alten Zeitung, der „Sprachträger für unser Gedächtnis“. Letzte Nacht träumte ich von einer Frau aus der Schweiz. Sie war früher einmal Nonne. Und kehrte irgendwann dem Kloster und der katholischen Kirche den Rücken. Machte sich selbständig. Ich erkannte sie im Traum im ersten Augenblick nicht wieder. Weil sie, wie ich auch, älter geworden war. Fünfzehn, zwanzig Jahre sind vergangen. Und es war mir peinlich, sehr peinlich.

Musik, sagt der Neurologe in der Zeitung, sei „der stärkste Reiz für die Neuroplastizität“. Musik hören oder machen sei Schwerstarbeit. Musik bewirke bereits nach kurzer Zeit neuronale Vernetzungen und aktiviere das Zusammenspiel unserer beiden Gehirnhälften. Menschen, die ein Instrument spielen oder singen, würden in ihrer „emotionalen Intelligenz“ gefördert. Die Beschäftigung mit Musik sensibilisiere die Wahrnehmungsfähigkeit.

Ich habe es heute mit Bach versucht. Carl Philipp Emanuel. Johann Christian. Wilhelm Friedeman. Mit der Sonate für Violine und obligates Cembalo. Mit einem Menuett von Christian Petzold. Bachwerkverzeichnis Anhang 115.

Etwas sträubt sich gewaltig in mir gegen den Arbeitsspeicher, mit Hilfe dessen mein Gehirn und meine Fingerspitzen komponierte Strukturen und Ordnungen wiedererkennen sollten. 
Comments: Kommentar veröffentlichen

<< Home

ARCHIVES
April 2005 / Mai 2005 / Juni 2005 / Juli 2005 / August 2005 /


Powered by Blogger