Beim Erzengel
Sonntag, Mai 29, 2005
  Sonntagsschule .

Am Morgen. Tai Chi im Park vor der Kirche. Danach die jungen Schwäne im Engelbecken besucht. Sie erhielten gerade eine ihrer ersten Lebenslektionen. Seit ich aus Warschau zurück bin, gibt es keinen Nachtfrost mehr. Gestern war mit 34° der heißeste Maitag in Berlin seit über hundert Jahren. Ich überwinde mich also und gehe am Morgen raus und mache meine langsamen Übungen beim Erzengel. Ertrage die Blicke der Nachbarn. Im Rücken und im Genick. Der Rentner und der Kirchgänger. Die kleinen Schwäne haben ihren Körperumfang bereits verdoppelt. Sie ertragen meine Blicke auch. Sie mussten heute lernen, von ihren Eltern verlassen zu werden. Die großen Schwäne flogen quer über das Engelbecken. Die Kleinen versuchten ihnen nachzukommen, paddelten mutig in die entsprechende Richtung. Aber da flatterten die Großen bereits mit Getöse wieder auf und setzten sich in der entgegengesetzten Ecke wieder aufs Wasser. Die Kleinen wendeten. Eifrig. Suchten. Sofort. Die Großen verließen wieder ihr Gesichtsfeld. Dies wiederholte sich einige Male. Bis die fünf in die Geborgenheit und Geschlossenheit zurückkehren durften. In die Mitte genommen wurden. In Einerkolonne dem Schilf entgegen. Die Mutter vorne, der Vater hinten. Oder umgekehrt. Ich fragte mich, ob das beim Menschen auch so rapide geht.

Am Mittag in der Akademie der Künste. Verleihung des Alfred-Döblin-Preises an Jan Faktor. Der neue Glasbau am Pariser Platz, erst vor einer Woche eröffnet, kämpft mit den Widrigkeiten des Daseins. Die Maihitze staut sich bereits in den durchsichtigen Räumen. Toiletten gibt es nur im 2. Untergeschoss. Der private Sicherheitsdienst hindert einen immer wieder am Übertreten von unsichtbaren Schwellen. Ein Stück Originaldöblin über die Liebe gehört. Eine Laudatio vom Unfeinsten. Der Laudator stellte sich über den Preisträger. Der Preisträger bekam den Preis (einen Umschlag und eine einzelne gelbe Blume) und las zwei Fragmente aus seinem unveröffentlichten Roman „Schornstein“. Über Gerüche und Körperausscheidungen. Der Appetit auf den Sonntagsbraten verging von selbst. Dennoch danach auf der Dachterrasse ein Glas Sekt getrunken. Das Wundern hört nie mehr auf. So einen Blick über Berlin hatte ich noch nie.

Am Abend wollte ich mir einen Ume-Tee kochen. Mich mit Japan versöhnen. Endlich die Dose öffnen, die ich am Tsukuba-San gekauft hatte. Darin zwei aromadicht (wie ich annehme) verschweißte Folienpackungen. Und ein winziges Plastiklöffelchen. Wie niedlich, denke ich fast wehmütig. In Japan wird man umsorgt. Ich schneide die eine Folie auf. Bin überrascht – schneeweißes, feinstes Pulver! Gut, dass ich dies nicht ahnte. An den Grenzen und Flughäfen außerhalb des Landes. Bei den Spezialbehandlungen, die meinem Gepäck zuteil wurden. Ich verzichte vorsichtigerweise darauf, den „Tee“ in meinem chinesischen Tonkännchen aufzubrühen. Dosiere vernünftigerweise mit dem beigelegten Löffelchen. Schütte das Pulver in eine normale Tasse, gieße heißes Wasser darüber. Und bin auf alles gefasst. Vor allem auf Süßigkeit. Auf furchtbar süße Süßigkeit. Die Flüssigkeit verfärbt sich bräunlich. Bleibt aber klar. Ich nehme einen Schluck. Mutig. Wie die kleinen Schwäne. Wenn sie auf der für sie unendlichen Wasserfläche die Richtung ändern. Um Vater und Mutter entgegen zu schwimmen. Darauf war ich dann doch nicht gefasst. Ich schlucke leer. Pflaumenblütentee vom Tsukuba-San schmeckt salzig. Wie Schwiegermutters geliebte „heiße Tasse“. Hühnerbrühe. Kraftbrühe. In der Nase Frühlingsblüten. Auf der Zunge Sonntagsbraten. 
Comments: Kommentar veröffentlichen

<< Home

ARCHIVES
April 2005 / Mai 2005 / Juni 2005 / Juli 2005 / August 2005 /


Powered by Blogger