Beim Erzengel
Dienstag, Juni 07, 2005
  Auf dem Behandlungsstuhl .

Um sieben Uhr in der Früh liege ich ausgestreckt auf dem Patientenstuhl der Zahnklinik. Lasse mir klaglos Zahnstein entfernen und Verfärbungen wegputzen.

Um zwanzig vor sieben sass ich in einer überfüllten U-Bahn Richtung Potsdamer Platz. Dicht gedrängt versuchten alle, sich die tropfenden Regenschirme vom Leib zu halten. Über dem Erdboden ging gerade ein Jahrhundertunwetter nieder. Die Erkenntnis dieses unfreundlichen Junimorgens: Menschen, die Arbeit haben in dieser Stadt sehen keineswegs glücklicher aus als Menschen, die keine haben.

Die Dentalhygienikerin erzählt von den Leiden einer arbeitenden Mutter. Kindergartenplätze für knapp Einjährige gäbe es in diesem Land keine. Ich kann dazu nicht Stellung beziehen. Mein Mund ist versperrt. In meinem Kopf explodieren Geräusche verschiedenster Art.

Um zehn vor sechs stand ich unter der Dusche und wusch mir mit den letzten Tropfen des japanischen Shampoos die Haare. Aus dem Radio plätscherte BBC mit einer Reportage über einen Mann, der 25 Jahre lang zu Unrecht im Knast war. Verhaftet hatte man ihn, als er 15 war. Dann ist er jetzt, ich rechne mit geschlossenen Augen, 40 und frei! Ich habe erst hier begriffen, warum es im 100-Yen-Shop in Tsukuba Plastikaugenabdeckhauben für Kinder zu kaufen gibt. Weil das japanische Shampoo so ätzend ist. Ätzender als alles, was man hierzulande zu kaufen kriegt. Dennoch bin ich sparsam damit umgegangen und habe es mir bis heute aufbehalten.

Gestern in der Badewanne in unserer Stralsunder Wohnung. Das norddeutsche Inforadio berichtet davon, dass in Japan seit 80 Jahren um 6:30 Uhr dieselbe Musik gespielt wird, mit demselben Zweck: Morgengymnastik für alle. In einer modernen Coffee-Shop-Kette wird die bekannte Melodie um 8:30 Uhr in allen Filialen, Fabriken, Bürogebäuden wiederholt. Ein Angestellter sagt ins Mikrophon, keiner würde dazu gezwungen, aber alle machten mit. Eine Frau lacht und bekennt, dass es heute ganz andere Möglichkeiten gäbe, sich fit zu halten, aber die Entspannungsübungen nach der Melodie aus dem Radio seien wichtig, eine Art gemeinsames Ritual am Morgen. Gleich danach würden die Abteilungsleiter zur ersten Sitzung aufrufen. Und ein dritter bekannte, dass er, kaum höre er die Musik, automatisch aufstehe und die Bewegungen mache. Mein Schlafwandlerland!

Im Hirn kracht gerade ein Kratzen an die Schleimabsauggeräusche. Die arbeitende Mutter fragt, ob die Salzlösung zu kalt sei. Ich bewege andeutungsweise meinen Kopf von rechts nach links. Der Mensch hört auch mit den Zähnen. Mit den freiliegenden Zahnhälsen. Mit den Schädelknochen. Dem Hinterhauptsbein. Der Nackenmuskulatur.

Der Regen ist wie weggeblasen, als ich nach einer Stunde auf die Stresemannstraße trete. Ich habe nicht die geringste Lust auf die verdrießlichen Gesichter in der Berliner U-Bahn und gehe zu Fuß nach Hause. Durch die Kochstraße, die Oranienstraße und durch das Engelbecken. Es sind nur noch vier kleine Schwäne da. Im Schilf steht stolz der Reiher, der schon letztes Jahr hier den Sommer verbracht hat. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.

Am Mittag, als ich mir ein Lachsbrötchen zubereite und aus Langeweile auf Deutschlandradio umschalte, höre ich den bereits bekannten Ritualgymnastikbeitrag. Die 80-jährige japanische Tradition turnt sich gerade durch die deutschen Sendeanstalten. 
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