Beim Erzengel
Mittwoch, Juni 01, 2005
  Der Stimmkeil .

Maria K. sprach schon vor langer Zeit die tröstlichen Worte gelassen aus, dass mein Horoskop ab Juni Besserung verspräche. Also bestellte ich für heute den Klavierbauer, der vor fünf Vierteljahren das hundertjährige Liegnitz in Klötzchen zerlegt unter den wachen Augen des Erzengels in meine Wohnung hineintrug. Er kommt aus Kasachstan. Gestand er mir vorhin in der Küche. Und weiß sich deshalb zu helfen. Er hatte den Stimmkeil in der Werkstatt vergessen, was ihn ziemlich ärgerte, und schnitt mit dem chinesischen Hackbeil meines Privatkochs gekonnt einen gebrauchten Radiergummi zurecht.

Dann stimmt der kasachische Klavierbauer mein Klavier. Immer, wenn ich ihn rufe, kommt er sofort. Nimmt als erstes die vordere Verschalung und die Tastaturabdeckung ab. Zwei Handgriffe und der Brustraum ist offen. Und mein Zimmer sieht aus wie seine Werkstatt. Er schlägt das A an. Prüft den Ton mit dem elektronischen Messgerät. Er ist verstimmt. Zu tief. Wen wundert’s. Er stopft ein rotes Band zwischen die Diskantsaiten am Stimmstock. Damit sie verstummen. Die erste Oktave stimmt er mit dem Gerät. Guckt auf die Anzeige, verfolgt die Schwingung der Nadel. Dreht mit dem Stimmschlüssel an den Stimmwirbeln, bis der elektronisch rote Punkt aufleuchtet. Dann packt er das Ding ein und legt es in seine Ledertasche. Das Ohr hört besser als die Elektronik. Sagt der blonde Kasache und lächelt. Er liebt mein Klavier. Horcht sich hinein in seine Nacktheit. Lauscht den Schwingungen. Der offene Resonanzboden reagiert auf unsere Worte. Ich ziehe mich an meinen Computer zurück. Mache die letzten Korrekturen am Seiden-Manuskript. Bin wieder in Japan. Während sich nebenan die Töne in Reih und Glied stellen. Dem Ohr und der Hand des Klavierbauers gehorchen. Ich hatte am Vormittag endlich meinen dicken Japan-Umschlag geöffnet. Lauter jetzt unverständliche Papiere. Und ein Spuckbeutel von ANA – All Nippon Airlines. Englisch beschriftet. Waterproof Disposal Bag. Tear off to open.

Mein Radiergummi steckt als Stimmkeil zwischen die Saiten. Der Klavierstimmer zieht das rote Band aus den Diskantsaiten, stopft es zwischen die Basssaiten. Mit einem Schraubenzieher. Er geht unzimperlich um mit der Materie. Die ihm vertraut. Er tastet die Töne nach allen Seiten ab. Legt die Saiten, die dabei stören, lahm. Renkt die anderen ein. Er erzählt von einem wunderbaren Bechstein. Der noch unförmiger sei als mein Liegnitz. Noch unmöglicher zu transportieren. In keine Wohnung passen werde. Aber, sagt er, mal sehen, was daraus wird. Der Klavierbauer macht das Klavier. Organisiert die Innereien. Bringt die Mechanik in Einklang mit dem Holzgehäuse. Wieder spricht er vor allem nur vom Holz.

Als die Töne stimmen, zerlegt er das Klavier weiter. Schraubt die Hammerleiste los und hebt die ganze Tastenmechanik heraus. Stellt sie kopfüber auf den Boden. Sucht die Stelle, an der mein Fortepedal quietscht. Er bewegt langsam verschiedene Glieder, die Hebewippe, den Gegenfanger, die Stoßzunge, die Dämpferpuppe. Es quietscht immer noch. Zu wenig gespielt, sagt der Mann, der mein Klavier liebt. Stimmt. Antworte ich verblüfft. Er holt eine Spritze aus seiner Werkzeugtasche, zieht Spezialöl auf. Injiziert. Fein dosiert. Ins Dämpferarmgelenk.

Mein Klavier sieht wieder aus wie immer. Etwas zu antik für unsere Billyregalwohnung. Auf meinem Schreibtisch liegen Korrekturfahnen. Nach eineinhalb Jahren per Post heute aus Polen eingetroffen. Mein Referat für den Konferenzband. Lidka bittet darum, sorgfältig zu lesen, die Zitate zu überprüfen und allfällige Korrekturen mit Bleistift anzubringen. Sie arbeitet mit Radiergummi. Ich werde mich hüten. Papier ist unsäglich.

Den in meiner Küche entstandenen Stimmkeil habe ich Igor geschenkt. 
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