Beim Erzengel
Samstag, Juni 25, 2005
  Gänsemarsch .

Konwickis Tagebuch von 1974 ist gar kein Tagebuch. Vom Jahr 1974 erzählt der Tagebuchschreiber so gut wie gar nichts. Er selbst nennt es sogar „Lügentagebuch“. Aber Lügen erzählt er auch nicht. Ich mache mir nur noch Gedanken über mein Konzept. Für das dritte Buch über meinen Meister.

Die Hitze heute hat mich erschlagen. Weit nach Mitternacht kam ich mit dem Fahrrad von Neukölln nach Hause. Zur Zeit wird es nachts weder kalt noch dunkel. Am Nachmittag zersprang mir der Kopf. Ich legte mich ins Bett. Stellte den Wecker auf halbfünf. Länger als eine Stunde sollte man tagsüber nicht in Schlaf versinken. Und dann kam das Gewitter. Die Temperatur sank blitzartig um 15 Grad auf erträgliche 21. Berlin ist ein Sammelsurium von Welten.

Ich hatte völlig vergessen, dass mein Meister seinen Meister hatte. Stanisław Dygat. Ist ja ganz normal. Und so bewegen wir uns im Gänsemarsch durch die Ewigkeit.

Im Tagebuch von 1974, das kein Tagebuch ist, sondern so etwas sie ein Selbstfindungsbuch, ein Umgebungsfindungsbuch, ein Vergangenheitsfindungsbuch – oder gar ein Selbst-Erfindungsbuch, ein Umgebungs-Erfindungsbuch, ein Vergangenheits-Erfindungsbuch, schreibt mein Meister, Konwicki, wen wundert’s, ausführlich über, nebst vielen anderen, seinen Meister, Dygat. Ein Meister ist eben ein Meister. Dem wird Platz eingeräumt. Im Leben. Und im Werk. Also auch in der Konstruktion der literarischen Selbstdeutung. 1976 erschien „Kalendarz i klepsydra“. Das war damals normal. Manuskripte hatten lange Korridore zu durchschreiten. Auch normal war, dass Konwicki nie mit jemandem darüber sprach, was er gerade schrieb. Nicht einmal sein Meister wusste, was Konwicki im Jahr 1974 nachts an der Górskistrasse trieb. Und dann war dieser Meister, der zwei Meter lange dicke Dygat, so empört über die Passagen des gewitzten schmalbrüstigen Ziehsohnes zu seiner Person, dass er bis kurz vor seinem Tod kein Wort mehr mit Konwicki sprach.

W. ist im Anflug auf Schönefeld. Berlin ist ein Sammelsurium von Möglichkeiten.

Die Zensur strich aus dem Manuskript eine Textstelle, in der Konwicki berichtet, dass er zweimal im Leben geohrfeigt wurde. Einmal vor dem Krieg. Auf dem Pausenhof von einem älteren Schüler. Und einmal nach dem Krieg. Im Januar 1968 von einem polnischen Milizionär. Ich weiß, dass diese Ohrfeigenszenen in Konwickis Romanwerk herumgeistern. Es fällt mir auch nicht schwer, sie genau zu lokalisieren. Aber was heißt das?

Berlin ist ein Sammelsurium von Grenzwerten. Ich weiß keine Anekdoten über meinen Meister zu erzählen. Ich rufe ihn ungefähr einmal im Monat an. Ich sage ihm nicht, dass ich noch ein Buch über ihn schreibe. 
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