Beim Erzengel
Freitag, Juni 17, 2005
  Großvaters Geburtstag .

Mein Großvater Paul hat heute Geburtstag. Er schläft noch, da er auf der anderen Seite der Welt lebt. Vor dem Frühstück wird er mit meinem einäugigen Pferd über die Felder reiten. Danach wird er sein Stirnfellhaar glätten und murmelnd den linken Augapfel trösten. Die Gesichtshaut beginnt sich allmählich abzulösen. Über der gewölbten Stelle. In vielen tausend hauchdünnen Schichten. Das geschlossene Auge verlangt unendlich viel Geduld. Von mir. Von Großvater. Von seiner Hand und seinen Fingerspitzen. Vom Sprunggelenk. Vom Schweif. Von den Nüstern und Oberlippen.

Mein Großvater Paul wird heute 91 Jahre alt. Im Traum habe ich ihm schon alle Geschenke überreicht. Großmutter Hanni kam gerade vom Frisör und ihr schneeweißes Haar duftete wunderbar.

Vor einem Jahr gratulierte ich Herrn B. zum 90. Geburtstag. Und wohl schon im Jahr davor zum 89. Herr B. ist der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der mir die direkte Verbindung zu einer literarischen Figur herstellen konnte. Meine Romanfigur war Herrn B.‘s Großtante. Und Herrn B.’s zukünftige Frau lernte als pausbäckiges Mädchen mit dicken schwarzen Zöpfen bei dieser Großtante Englisch. Eine segensreiche Investition in die Zukunft. Denn die gestrenge Lehrerin prüfte ihre Schülerin auf Herz und Nieren. Ob sie ihrem Lieblingsneffen, Klein Päuli, eine gute Gattin abgäbe. Und Herr B. beschloss Jahre später, ich war wahrscheinlich gerade erst großvaterlos in Liestal auf die Welt gekommen, mit Frau und drei Kindern nach Amerika auszuwandern. Wie erleichtert war ich, dass Herr B. in Pennsylvania heute ohne Scheu Computer, Email und Internet nutzt. So wie er als junger Käser in Ägypten mit sensiblen Milchkühen und eigensinnigen Stieren umzugehen wusste. Ein furchtloser Mensch, mein Großvater!

Die Metamorphose vieler Gedankengänge. Die Verwandlung von Gefühlen wie Angst oder Schmerz. Das Klirren in meinem rechten Ohr ist gestern früh verstummt. Heiko hat nach dem Tai Chi seine Hand vor mein Ohr gehalten. Nur so. Währen wir noch im Akazienhof herumstanden und überlegten, ob wir uns drinnen oder draußen hinsetzen wollten. Zu unserer donnerstäglichen Latte macchiato. Er wollte spüren, „ob da etwas ist“. Aber da war nichts mehr. Die Abwandlung von Wörtern und Namen. Als ich Herrn B. auf der Rückreise von Japan in New Holland besuchte, nannte ich ihn Paul. Vom ersten Augenblick an. Etwas anderes wäre überhaupt nicht in Frage gekommen. Erst als ich wieder in Berlin war und mit dem Erzengel auf dem Glockenturm sprach, spürte ich, dass mir etwas fehlt. Dieses Gefühl kann man, wenn es richtig schmerzt, Sehnsucht nennen. Und das, was mir fehlte, war Paul. Erst als ich längst wieder weit weg von ihm war, verstand ich, dass er mein Großvater ist. Die Begrifflichkeit von Lebensläufen.

Mein Großvater Paul feiert heute seinen 91. Geburtstag. Ich bin stolz auf ihn und vermisse seine starken Hände. Ich danke ihm, weil er mein einäugiges Pferd pflegt. Weil er mit Engelsgeduld und Berndeutsch sein linkes Auge öffnet. Damit ich es eines Tages abholen kann. Und durch die Personenkontrolle am Flughafen Dulles mitnehmen darf. Auf meinem Berliner Balkon blühen Blumen, die ich nicht gepflanzt habe. Sie fanden ihren Weg aus der letztjährigen Erde in den Kästen allein.

Ich gratuliere Dir herzlich, lieber Großvater Paul, und wünsche Dir alles Gute, schmerzfreie Tage, unbeschwertes Atmen. Und uns beiden eine virenfreie Standleitung. 
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