Beim Erzengel
Mittwoch, Juni 22, 2005
  Mein Meister .

Mein Meister in Warschau hat heute Geburtstag. Ich rief ihn früh an. Denn später ist er immer schlecht erreichbar. Er war aufgeräumt. Fröhlich. Ließ mich nicht zu Wort kommen. Munterte mich auf.

Mein Meister heißt Tadeusz Konwicki. Er ist einer der wichtigsten Schriftsteller und Filmemacher des polnischen zwanzigsten Jahrhunderts. Im Rest der Welt vorwiegend unbekannt. Ich schrieb über ihn – über sein literarisches Werk – meine Doktorarbeit. An unserer Hochzeit in Warschau vertrat er den Brautvater. Er verheiratet mich an einen Deutschen. Und tat dies so ungern, wie es mein eigener Vater auch getan hätte. Mittlerweile hat er aber verstanden, dass W. eigentlich ein Asiate ist.

Er hat ja so recht. Mein Meister in Warschau. Dass ich ihn heute früh nicht zu fragen brauchte, wie es ihm gehe. Er ist so alt wie meine Mutter, 79. In einem Jahr, beschloss ich heute früh, nachdem ich getröstet den Hörer aufgelegt hatte, muss mein drittes Buch über ihn erschienen sein. Futur II. Das narrative Ich als produktive Obsession. Welchen Beschränkungen unterliegt ein Ich-Erzähler? Wieviel Wahrheit verkündet ein autobiografisches Ich? Über diese Fragen habe ich schon Jahre nachgedacht. Im Mai ist Konwickis Tagebuch von 1974 erstmals in der unzensierten Fassung erschienen. Das Material ist vollständig. Ich habe keine Ausrede mehr.

Das Tagebuch von 1974. „Kalendarz i klepsydra“ = „Kalender und Sanduhr“. Konwicki schrieb es, als er so alt war wie ich heute. Damals hatte er bereits seine ganze offizielle Karriere hinter sich. Mit dem nächsten Manuskript ging er in den Untergrund. Dort blieb er fast zehn Jahre. Danach kam bald die Wende. Und seither schweigt Konwicki.

Mein Meister Tadeusz Konwicki. Ich lernte ihn im April 1984 in Warschau kennen. Saß verschüchtert zum ersten Mal in seinem Wohnzimmer. Er im Schaukelstuhl. Ich radebrechte Polnisch. Er schenkte mir ein Buch, „Kalendarz i klepsydra“ – die zensierte zweite Auflage von 1982. Mit der Widmung: „Für Judith B., der ich Erfolg in Polen und in der Polonistik, aber auch im Leben wünsche – Tadeusz Konwicki, Warszawa 7.4.1984“. Damals war ich noch nicht mit Herrn A. verheiratet. Und hieß B.

Mein Meister. Mein erstes Buch in Deutsch, die sechshundert Seiten starke Doktorarbeit, hat einen unaussprechlichen Titel. Das zweite, in Polnisch, ist schmal und bescheiden illustriert. Es heißt lapidar „Mój Konwicki“ - „Mein Konwicki“. Das dritte, Polnisch und im Futur II gehalten, wird ganz auf Fotos und überflüssige Worte verzichten. Und einen hinterlistigen Titel tragen müssen.

Im Mai war ich in Warschau. Kaufte mir den neuen alten „Kalender“. Reihte mich nach der Buchpräsentation geduldig in die sozialistische Warteschlange ein. Bat meinen Meister um eine Widmung. Er würdigte mich grimmig keines Wortes. Keines Blickes. Überlegte keine Sekunde. Schrieb zügig, was er mir nach einundzwanzig Jahren zu sagen hatte. Und griff nach dem nächsten Exemplar.

Ich ließ das Buch stundenlang, tagelang nicht aus den Augen. Bis ich endlich wagte, auf dem Rückweg, im Warschau-Berlin-Express, es aufzuschlagen. „Meine liebe Judith, Du weißt alles! Tadeusz Konwicki 18.5.2005“.

Sto lat – auf hundert Jahre! 
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