Beim Erzengel
Donnerstag, Juni 23, 2005
  Sauerkrautsaft .

In Polen ist alles easy. Ich schrieb eine email an meinen Freund Wojtek, der sich seit Jahren mit dem Literarischen von Eisenbahnfahrplänen beschäftigt. Und eine email an Frau Indyk. Wäre diese Frau nicht Verlagsleiterin in Krakau, sondern lebte in der mehr oder weniger freien Wildbahn, dann könnte sie zu Weihnachten gefüllt, gestopft, gebraten oder gebacken werden. Für die Ornithologen ist Indyk nämlich Truthahn. Aber ich will einen literaturwissenschaftlichen Essay über Konwickis narratives Ich schreiben. Wojtek verfasst, wie gehabt, das Vorwort dazu. Und Frau Indyk meint, ja dann schreiben Sie mal.

Jetzt trinke ich vor dem Essen ein Gläschen Sauerkrautsaft. Das beruhigt die Nerven.

Ich weiß nicht, warum ich überhaupt noch deutsch schreibe. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt verheiratet bin. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt. Hier. Bin.

Kürzlich in der Nacht, als ich mit Tanja Dückers über den Alex nach Hause fuhr, konnte sie sich auf dem Fahrrad vor unserem Orwellhaus überhaupt nicht mehr einkriegen vor Staunen, dass wir beide, Wessis!, freiwillig in einen ostberliner Plattenbau gezogen sind.
So ein Gedanke ist mir noch nie im Leben gekommen. Dass ein Wessi nicht in einen Plattenbau ziehen könnte. Ich bin ja keine Wessa. Auch keine Ossa. Ich bin gar nichts. Gehöre weder hierhin noch dorthin. Ich bin vielleicht eine Swissa. Oder eine Aussa. Oder eine Südda. Ja, ich stamme aus dem Süden. Das ist unverfänglich und geografisch korrekt. Wolfgang hingegen ist ein waschechter Weddinger, ein nordwestberliner Arbeiterkind.
Und dann verstand ich auch endlich, warum Tanja, die ja nicht auf den Kopf gefallen ist und nur drei Häuserecken weiter in Kreuzberg wohnt, bei unserer Abschiedsparty am 25. Dezember nicht erschienen ist. Weil sie unsere Wohnung nicht gefunden hat. Weil sie den Michaelkirchplatz nach einem westberliner fünfstöckigen Altbau abgesucht hat. Die sind aber alle beim letzten Bombenangriff im Februar 1945 in Schutt und Asche gelegt worden. Sie sei, schrieb sie mir in einer verzweifelten email am 26. Dezember, eine halbe Stunde in der Kälte herumgeirrt und habe nirgends die Nummer 23 gefunden. Ich konnte das damals überhaupt nicht verstehen. Wir wohnten ja noch nicht in Japan, wo es tatsächlich weder Hausnummern noch Straßennamen gibt. Jetzt ist es mir klar: Tanja Dückers hatte einfach eine Wegfahrsperre im Kopf – so wie alle blitzblanken Autos vor meinem Balkon am Lenkrad. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Wessis in den Osten ziehen und zwar richtig. In die Platte.

Jetzt setze ich mich vormittags eine Stunde auf den Balkon und lasse mir die Sonne auf den Buckel brennen. Damit ich etwas Wärme in die Haut kriege. Mein Ehemann ist am Dienstag nach Eastbourne geflogen. Zur Atlas-Konferenz. Weilte er in Stralsund bei seiner Arbeit, wäre ich längst zu ihm gefahren. Mit meinem kleinen Kummer kann ich ihm aber nicht über den Golfstrom nachflattern. Ich bin kein ornithologisches Fluggerät. Und keine Mastgans. Also sitze ich auf dem Balkon, halte Zwiesprache mit meinem Erzengel und lese Konwicki.

Und trinke vor dem Essen ein Gläschen Sauerkrautsaft. Das fördert die Verdauung. In Polen ist alles easy. 
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