Beim Erzengel
Sonntag, Juni 12, 2005
  Sonntagsbesuche .

Zum Frühstück bei Schwiegereltern in Charlottenburg. Dann W. zum Bahnhof Zoo begleitet. Und mit dem Intercity bis Ostbahnhof im Erstklassabteil mitgefahren. Dort küsste ich meinen Mann und stieg aus dem Zug wieder aus. Unsere Sonntagsabschiede. Der 147-Bus war gerade weg. Also nahm ich die S-Bahn. Eine Station bis Jannowitzbrücke. Und kehrte zu Fuß nach Hause zurück. Mit einem kleinen Umweg um den Bärenzwinger im Köllnischen Park. Die Bären hatten Mittagessenszeit und grapschten Weintrauben und Melonenstückchen aus den Bäumen.

Schwiegervater ist von der Krankheit gezeichnet. Schwiegermutter hat die Geduld verloren. Ihn lassen die Spannungskopfschmerzen nicht mehr los. Sie klagt über Kreuz und Knie. Er sagt immer weniger. Sie hört immer schlechter. Ein leiser Rückzug in die Ewigkeit.

Die Berliner Stadtbären sind unsere Nachbarn. Das hatte ich zeitweilig vergessen wie den Erzengel auf dem Glockenturm von unserem Orwellhaus. Nur Japan ist nach wie vor überall. Vorgestern kam in der Süßigkeitendose aus bemaltem Spanholz in Form eines Schweizer Alphornbläsers (ein Geschenk meiner Schwester an ihren Berliner Schwager) eine angebrochene Meiji Milk Chocolate (Milchschokolade) zum Vorschein. Neben einer angebrochenen Wedel Czekolada Gorzka (Bitterschokolade). Heute nachmittag entdeckte ich auf dem Schreibtisch, an dem ich täglich meine emails abrufe, zwei Feuerzeuge. Ein schwarzes „Romantic Hokkaido“. Und ein weißes, mit einem zierlichen schwarzen Hahn und zwei aseptischen Kanji-Zeichen. Niemand raucht bei uns. Aber W. deckt sich in jedem Land, in jedem Hotel, in jedem Souvenirshop mit nützlichen Dingen wie Schreibpapier, Streichhölzern und Gästezigaretten ein.

Schwiegervater kann noch immer nicht verstehen, dass sein jüngerer Sohn mit „Quatschen“ Geld verdient. Er selbst hat seiner Lebtag viel und schwer auf Schultern und im Nacken getragen. Als Zimmermann. Und nun zerspringt ihm auf die alten Tage der Kopf.

Unsere Nachbarn, der amtierende Stadtbär Tilo und die Bärinnen Maxi und Schnute, werden täglich um 12:30 Uhr gefüttert. Kaum jemand weiß, dass das Berliner Wappentier, der Berliner Bär, lebt. Und bei uns um die Ecke wohnt. Unweit der Spree. Im Schatten des Märkischen Museums. In einem ehemaligen Straßenreinigungsdepot. Das 1938 zum Bärengraben umgebaut und ausgehoben wurde. Bis heute will sich kaum jemand tatsächlich daran erinnern, dass der Berliner Bärengraben am 17. August 1939 offiziell eröffnet wurde. Die ersten Bären waren ein Geschenk der Schweizer Bärenstadt Bern: die Bärin Vreni und der Bär Urs. In der DDR-Geschichtsschreibung wurde die Eröffnung des Berliner Bärenzwingers um 10 Jahre nach vorne verlegt. So machte sich die Sache besser in den Schulbüchern. Wie hätte man den Kindern erklären sollen, dass hier Herz gezeigt wurde, für Mensch und Tier, während kaum zwei Wochen später die Ostgrenze überschritten und der fürchterlichste Krieg in der Geschichte der Menschheit losgetreten wurde? Das Berner Bärenpaar hatte sich noch nicht an der Spree eingelebt, als an der Weichsel bereits die Kapitulation verkündet wurde. Vreni und Urs überlebten, wie so viele, das Bombengewitter vom 3. Februar 1945 über der Luisenstadt nicht. Und Bern schenkte dem neugegründeten „deutschen Teilstaat” 1949, nach der Wiederherstellung des Bärenzwingers im Köllnischen Park, erneut ein Bärenpaar, Nante und Jette. Und bis heute werden die Bären um 12:30 gefüttert. Bekommen, zur körperlichen Ertüchtigung und zur Belustigung des Publikums, Früchte und Trockenfisch in die Bäume gehängt.

Der zweihundert Kilo schwere Tilo war missmutig. Spürte die Spannung in der Luft wie mein Schwiegervater. Drehte schweigend seine Runden. Vertrieb Spatzen und Stadttauben.

W. war, als ich ihn anrief, bereits in Bernau. 
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