Beim Erzengel
Montag, Juni 27, 2005
  Tinnitus .

Letzte Woche ist mir meine Zuversicht abhanden gekommen. Gleichzeitig ist das Klirren im rechten Ohr verstummt. Ich kann die seismometrischen Registrierungen meiner inneren und äußeren Organe nicht mehr deuten.

Vorletzte Woche pilgerte ich zu einer Hals-Nasen-Ohren-Ärztin im Osten der Stadt. Legte mich an fünf Tagen hintereinander auf die Pritsche in ihrem Behandlungsraum und ließ mir eine durchsichtige Flüssigkeit in die Venen des rechten Armes träufeln.

Die Hälfte meines Lebens verschweige ich. Einer unaussprechlichen Gerechtigkeit wegen. Um das mathematische Gleichgewicht von Wort und Unwort zu wahren. Und aus Rücksicht auf meinen Großvater in Amerika.

Täglich tropften 250 ml HAES 6% in meinen Blutkreislauf. Anschließend fuhr ich mit dem Fahrrad über den Alexanderplatz nach Hause. Ein braches Lastwagenfeld. Am zweiten Tag entdeckte ich einen ungefährlicheren Weg. Und traf auf Karl Liebknecht in Bronze. Er zeigt mit dem nicht ganz ausgestreckten rechten Arm stumm nach Osten. Bekleidet nur mit einem groben Arbeitskittel. Steht er an der Ecke Hirtenstraße - Karl-Liebknecht-Straße. Auf den Steinbänken hinter dem Denkmal ruhten sich täglich Rentner aus. Ich wagte nie, sie zu fragen, wer der kalte Riese wirklich sei. Ein Namenstäfelchen konnte ich nirgends entdecken. Keine Jahrzahl. Kein Wort des Lobes. Oder Dankes.

Täglich lag ich dort 45 Minuten und schwieg. Hörte die Stimme der Praxishilfe. Am Telefon. Oder nebenan. Vor dem grauen Stoffvorhang. Hinter dem ich an die weiße Decke starrte. Wenn sie Ohren spülte. Ohren wärmte. Ohren zum Hörtest führte. In die schalldichte Zelle.

Erst auf der Alexanderstraße fühlte ich mich jeweils wieder in Sicherheit. Sie ist auf ihrer ganzen Länge aufgerissen und für jeden Verkehr gesperrt. Fahrräder werden an der monströsen Baustelle vorbei auf dem Bürgersteig bis zur Brückenstraße geleitet. Ausgerechnet mitten auf den mehrspurigen Kreuzungen fürchtete ich immer am meisten, dass die unscheinbare Fremdflüssigkeit mit meinem Organismus etwas Unumkehrbares anstellen könnte. Ich hielt mich an alle Verkehrsregeln und trat nur bei grün los.

Die Durchblutung des Innenohrs muss verbessert werden, erklärte die Ärztin. Das Ohr tickt immer noch wie eine Schweizer Präzisionsuhr, wiederholte ich stur. Während sie mir die Nadel setzte. Ich dürfe mich nicht auf das Geräusch konzentrieren. Mahnte sie. Aber ich will doch wissen, ob es noch da ist.

Eineinviertel Liter chemisch ausgewogener und nebenwirkungsfreier Flüssigkeit. Freiwillig in meiner Blutbahn. Tinnitus ist keine Krankheit. Tinnitus ist beileibe kein Herzinfarkt im Ohr. Tinnitus ist nicht heilbar. Ich trage die Zweifel an der Diagnose nach Hause und lege mich ins Bett. Die Tabletten, die sie mir zuerst verschrieben hatte, setzte ich nach eineinhalb Tagen ab. Mein Kreislauf stand Kopf. Und an meine Schädeldecke schlug die vor einem halben Jahr vom Seebeben vor Sumatra ausgelöste Welle. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich sterbenselend.

Ich habe keinen Tinnitus. Vorletzte Woche tobten in meinem rechten Ohr die Vorboten der Zuversicht, die ich letzte Woche verlor. 
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