Beim Erzengel
Dienstag, Juni 14, 2005
  Unausgeglichen .

Heute beim Tai Chi neben dem Erzengel habe ich plötzlich gespürt, dass meine linke Hand, ja mein ganzer langer linker Arm, in der Lage sind, einen Raum zu bilden. Vor meinem Körper. Und um meinen Oberkörper herum.

Oft habe ich das Gefühl, dass eine Bewegung in die eine Richtung, auf der einen Seite, besser gelingt, als in die andere.

Und dass ich gespalten bin.

Das Ticken. Es hat nur das rechte Ohr besetzt. Und dennoch denke ich, muss es Japan sein. Japan im Allgemeinen. Japan überhaupt. Japan pur.

Der Sommer ist da. In Berlin. Abends um zehn Uhr ist es noch hell. Das ist aber auch alles. Von diesem Sommer. W. in Stralsund hat Schnupfen und Halsschmerzen. Zuviel „gequatscht“, sagt er und lacht etwas gequält. Sturmböen werden vorausgesagt für die Ostseeküste. Und in den bayerischen Alpen Nachtfrost.

Ich habe es nie aufgeschrieben. Dass der letzte Arbeitstag in Tsukuba von einem ganz anderen Schrecken besetzt war, als von dem „undramatischen Naturereignis“ auf Rügen. Die Wissower Klinken waren abgebrochen und in die Ostsee gestürzt. Die Wohnungsabnahme hatte in der Früh stattgefunden. Wir hatten unsere Schuldigkeit getan. Wir sollten nicht mehr telefonieren. Ich wartete den ganzen Tag auf die elektronische Kofferwaage. Nicht nur wir zogen Ende Februar aus dem Ninomiya-House aus. Der Professor war zu seinen beiden letzten wichtigen Terminen nach Tokyo gefahren. Bereits am Vormittag, nach dem „final payment“.

Um 14:30 Uhr klingelte das Telefon. Ich dachte, es sei die Verwaltung. Die Kofferwaage. Die Erleichterung. Das Ende allen Abwägens. Beide Koffer müssen 20 kg schwer sein. Aber es war eine Tokyoter Sekretärin. Die mich immer wieder bat, zu warten. Den Hörer weglegte und wahrscheinlich im Wörterbuch nach dem nächsten Wort blätterte. Und mir schließlich zu verstehen gab, dass der Professor noch nicht eingetroffen sei. Ihr Chef warte seit einer halben Stunde. Es gelang mir, die englische Frage in ihrem Hirn zu plazieren, ob sich denn ihr Büro direkt an der Tokyo-Station befände. Sie nickte akustisch. Ich legte auf. Ich wusste nur, dass der erste Termin direkt an der Tokyo-Station stattfinden sollte. Ich konnte mir in diesem Land weder Namen noch Institutionen merken. Nur Wege. Zugänge. Straßenüberquerungen.

Warum war der Professor, der kurz nach zehn Uhr im Regen das Ninomiya-House verlassen hatte, bis halb drei noch nicht an der Tokyo-Station eingetroffen? Das war die Frage, die mir für den Rest des Nachmittags in den Ohren lag. Der Bus brauchte normalerweise anderthalb Stunden. Und alle zehn Minuten fuhr ein Bus von Tsukuba Center los. Also hätte der Professor noch lange pünktlich sein können, auch wenn der Bus unerwartet mehr als doppelt solange gebraucht hätte. Im Stau. Weiß der Himmel wo. Durch meinen Kopf schossen viele Bilder. Und Gedanken. Und Kombinationen von beidem. Die ich hier nicht wiederzugeben brauche. Am vorletzten Tag in einem Land plötzlich auf sich allein gestellt zu sein. Ich versuchte zu funktionieren und kühl auf die Kofferwaage zu warten. Ich schrieb meinen vorletzten Blogeintrag.

Das Telefon klingelte nach fünf Uhr ein zweites Mal. Ich dachte, es sei der Professor. Die Erklärung. Die Erlösung. Das Ende allen Abwägens. Wider aller Vernunft. Aber es war die Verwaltung, die freitags nur bis vier Uhr arbeitet. Ich erhielt Instruktionen, von wem ich die Kofferwaage erhalten würde und an wen ich sie weitergeben möge. Ich nickte. Notierte die Appartementnummer des indischen Biologen. Tränenlos. Ich besaß nicht einmal eine Telefonnummer von Aoki-san. Die Verwaltung arbeitet nicht mehr bis Montag früh. Nur die Internetleitungen stehen.

Falls der Professor an keiner Stelle dieses Landes wieder auftauchen würde. Was sollte ich dann mit den zwei gewichtsmäßig ausgeglichenen Koffern tun? Der Professor musste annehmen, dass das Telefon in Appartement 2107 abgeschaltet worden sei im Moment, als er sich zum Busbahnhof aufmachte. Es gab keinen Grund für ihn, mich anzurufen. Er würde wie verabredet, am Abend zurückkommen. Ich konnte ihn nicht anrufen. Wir sollten nicht mehr telefonieren. Und er besaß in diesem Land kein Mobiltelefon.

Am letzten Arbeitstag in Tokyo. Vom Erdboden verschluckt. Oder in die Ewigkeit abberufen. Am Tag vor seinem Geburtstag. Ich hatte keine Ahnung. Gegen neun Uhr saß ich in der kalten Bibliothek und postete meinen unschuldigen Blog. Da kam er daher. Wie ich es mir gewünscht hatte. Aber der kühle Verstand sprach den ganzen Nachmittag gegen Wünsche und Gefühle. Da kam er daher. Lächelnd. Durchnäßt. Müde. Mit dem Taxi von Tsukuba Center. Um schneller bei mir zu sein. Er hätte den ganzen Tag im Stau gestanden. Und ich in Todesängsten. Er verstand mich nicht gleich. Nahm mich in seine Arme. Er konnte nicht wissen, dass mich eine Sekretärin angerufen hatte. Woher wusste die unsere Privatnummer? Wunderte sich der Professor. Eine andere gibt es nicht.

Wir gingen zu Otaru Zushi. Zum letzten Mal Sushi essen. Ich konnte mich lange nicht beruhigen. Warum sich die Bar mit Z schreibt, habe ich bis heute nicht verstanden. 
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