Beim Erzengel
Mittwoch, Juni 08, 2005
  Undankbar .

Ich habe einen Großvater in New Holland, einen Meister in Warschau und einen Ehemann in Stralsund. Ich bin emotional abgesichert. Auf der ganzen Welt.

Japan sitzt mir auf. Seit einigen Tagen wieder. Im Ohr. Obwohl ich es gestern in Form einer leeren Haarshampooplastikflasche aus unserem Badezimmer verbannt zu haben glaubte. Japan grinst im Bücherregal. Zwischen Wörterbüchern. Lehrbüchern. Stadtplänen. Reiseführern. Englischer Belletristik und großformatigen Bildbänden. Die Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Publikationen thronen im Arbeitszimmer in Stralsund. Japan hockt im Küchenschrank. Neben Teedosen und Gewürzmühlen. Liegt auf dem Klavier. Im unordentlichen Notenhaufen. In den Shamisen-CDs. Neben Stockhausen und Holst. Hält die halbe Festplatte des Laptops besetzt. Japan wächst. Wie ein Geschwür. In unseren Körpern. W. sagte am Wochenende, dass er die zwei Monate in Tsukuba eigentlich für sein China-Buch gebraucht hätte. Abgabetermin: Ende August. Der Luxus aseptischer Räume und eines sonnenreichen Winters bereitet uns im Nachhinein schlaflose Nächte.

Japan dröhnte in meinem Kopf. Nach meinem Verzicht auf Kyoto. Setzte sich etwas in meinem Ohr fest. Ein unmerkliches hohes, klares Klirren. Ein leises Ticken. Regelmäßig wie das Uhrwerk des asiatischen Swatchimitats am Handgelenk. Mit Aussetzern. Mit dem Verdikt des Professors, ich sei undankbar. Eine unheilvolle Verkettung von Unwille und Unwort.

Ich liebe es, durch eine flache Gegend zu fahren. Dabei kann ich meine Gedanken sortieren. In einer Landschaft ohne Berge. Im Zug nach Stralsund ist mir klar geworden, dass es Japan ist. Das Klirren des Schulmädchenkitsches. An Handtaschen. Rucksäcken. Frau Funcks Gefinger an den Glöckchen ihres Mobiltelefons. Während eines ganzen Abendessens im Ryokan Kikugawa auf Miyajima. Im besten Haus vor Ort. Hätte ich mich doch dort nicht beherrscht und stumm Austern geschlürft, sondern die Kollegin meines Mannes angeherrscht, ob sie denn nicht endlich Ruhe geben könnte. Dann bebte am 16. Februar die Erde in Tsukuba und Japan verstummte sofort in meinem Ohr. Ich erklärte mir das damals so, dass ich das Rumoren der Erde bereits Tage im Voraus gehört hatte. So wie ich ja auch einer Wiese anhören kann, ob sie einsam ist oder nicht. Undankbar. Und überheblich.

Jetzt ist das klare Klirren, sauber wie das ganze Land, wieder in meinem Ohr. Und ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat. Ich warte auf ein Erdbeben. Mein amerikanischer Großvater war ein paar Tage im Krankenhaus. Mein polnischer Meister schreibt seit Jahren nicht mehr. Mein deutscher Ehemann ist fleißig.

Meine Angst vor dem Tod ist eigennützig. Es ist die Angst vor dem Tod anderer. Die Angst davor, allein zurückzubleiben. Überheblich. Und undankbar. 
Comments: Kommentar veröffentlichen

<< Home

ARCHIVES
April 2005 / Mai 2005 / Juni 2005 / Juli 2005 / August 2005 /


Powered by Blogger