Beim Erzengel
Montag, Juli 04, 2005
  Das eindimensionale Ich .

Ich war ein paar Tage in Stralsund. Habe im Sund gebadet. Mir einen unschuldig goldenen Teint geholt. Beim morgendlichen Tai Chi am Wasser. Und finde jetzt bei der Rückkehr auf dem Schreibtisch eine alte Frage von W. Hingeworfen auf die Schreibunterlage. Wahrscheinlich während eines nächtlichen Telefongesprächs.

Unser Gedankenaustausch ist natürlich gestört, weil wir uns oft zwei, drei Wochen gar nicht sehen und dann wieder 5 Tage und Nächte am Stück zusammen sind. Dadurch geraten wir leicht aus dem Häuschen. Und vergessen schon mal die wichtigsten Dinge des Lebens. Wie Wohnungsschlüssel. Kreditkarten. Oder Pinguine.

Irgendwann, wahrscheinlich von einer Konferenz, einem Hotelzimmer oder einem Flughafen dieser Welt aus, hat mich W. nachts aufgeregt angerufen, weil ihm gerade in jenem dunklen Moment aufgegangen war, dass das Englische für „Ich“ zwei Begriffe kennt: „I“ und „me“. Dass das englische Ich mehrdimensional ist. Im Gegensatz zum deutschen Ich. Welches immer nur eintönig Ich ist. Dass man im englischen mit „I“ eher aus dem Innern spricht, mit „me“ hingegen eher aus dem Äußern. Was immer das heißt. Das Veräußerlichte, Abstrakte. Ich. Aus der Distanz. Betrachtete. In der Höflichkeit. Ich. Durch die Verfremdung. „It’s me“. Das Entfernen von sich selbst. Und immer noch „ich“ meinen. Oder sein wollen. Was weiß ich.

W. wollte damals – wie lange mag das bloß her sein? – in seiner vollmondnächtlichen Euphorie von mir wissen, ob es das im Deutschen auch gäbe. Eine gespaltene Ich-Aussage. Eine kreative Ich-Perspektive. Das Ich als Raum. Mehrdimensional. Mit Ecken und Kanten. Schärfen und Spitzen. Oder im Polnischen. Ich war überrumpelt. Aus meinen Gedanken gerissen. Ich hatte bestimmt gerade wieder einmal in Japan geweilt. Meine Nachtspaziergänge absolviert. Auf einer Straßenkreuzung in Toyama auf den Kuckucksruf gewartet. Ich wollte meine schwarzen Schuhe putzen. Da ist mir ein „portable premium liquid shoe polish black“ in die Finger gekommen. Made in Korea. Aber gekauft im Hundert-Yen-Shop in Tsukuba. Wessen Hände steckten noch vor Ostern in Berlin alles aus unseren Koffer in die richtigen Schubladen? Keine Ahnung. Sage ich perplex. Darüber muss ich nachdenken.

W.’s Nachbar in Stralsund ist blind. Und wohnt mit seiner sehenden Frau im Erdgeschoss. Wir im dritten Stock haben Aussicht über die Schrebergärten auf den Sund und auf Rügen. Am frühen Abend sehen wir die Hiddenseefähre übers Wasser Kurs auf die offene Ostsee nehmen. Beim Abwaschen blendet mich die untergehende Sonne noch um halb zehn Uhr abends. Um Mitternacht leuchtet am Horizont immer noch ein poesieblauer Lichtstreifen. Für uns Sprachlose im dritten Stock. Wo ist das englische „me“ in der deutschen Sprache abgeblieben? Der Nachbar unten sieht gar nichts. Ich fragte ihn, als er einzog. W. fand meine Frage taktlos. Ich aber wollte es wissen. Ob er die Stufen zählt. Oder sieht. Als Schatten. Ob er mich erkennt oder meine Stimme. Er weiß, wieviele Schritte er bis zu seinem Briefkasten zu gehen hat. Ich weiß das nicht. Ich habe keine Ahnung, wie viele Stufen mich im Fahrradkeller von meinem Schlafzimmer im dritten Stock trennen. Gestern früh sah ich ihn entschlossenen Schrittes das Haus verlassen. Die Frau am rechten Arm. Statt des Blindenstocks. Die Badetasche am Rücken. Auf dem Weg zum Strand. Ich bin sicher, er führte die Frau. Ich bin sicher, er weiß genau, wieviele Schritte sie beide auf geteertem Boden tun, bevor sie Sand erreichen. Nicht sie. So bestimmt habe ich noch nie jemanden die Welt am Sonntag durchschreiten sehen.

Das eindimensionale Ich. W. und ich sind kein eingespieltes Paar. Du blind. Ich Blindenstock. Oder umgekehrt. Wir haben keine eingespielte Sprache. „I“. „Me“. „Ich“. „Ja“. Ich denke immer noch über das „Ich“ bei Konwicki nach. Er spricht mit mir und ich sage verständnislos: „du kannst ruhig deutsch mit mir sprechen“. Die wichtigsten Fragen stehen unbeachtet auf der Schreibtischunterlage. Ich denke über eine literarische Konstruktion des Ich nach, ganz gleich welcher Sprache. Ein „Ich“-Erzähler kann weder im Englischen, Deutschen, Polnischen oder Japanischen allwissend sein. Im Gegensatz zu allen Ich‘s, die wir alltäglich auf der Straße, in der U-Bahn, im Regionalzug, antreffen und die leicht alkoholisiert bereits am frühen Morgen verkünden: „Ich? Ne!“ oder „Ich? Denkste!“ oder „Ich? Mit mir nich!“

Der Ich-Erzähler in einem Roman kann nicht allwissend sein. Das versuchte ich einmal einer Handvoll Studenten der Polonistik beizubringen. Keiner hat mich verstanden. Ein Ich-Erzähler kommt nicht aus seiner Haut. Nicht aus seiner Perspektive. Nicht aus seiner Sprache. Heraus. Ein Ich-Erzähler kann nichts wissen über die anderen Figuren, geschweige denn über die dargestellte Welt. Er kann nur mutmaßen. Subjektiv. Und mal falsch, mal richtig interpretieren. Letztendlich muss sich aber der Ich-Erzähler irren. Der Dramaturgie wegen. Denn über ihm steht – unweigerlich – der Autor. Und der hat seine eigenen Interessen. Seine eigenen Dimensionen. Der Ich-Erzähler ist eine zum Scheitern verurteilte Kreatur.

Und doch. Wenn Konwickis literarische Figur von sich behauptet „Ich heiße Piotr, weil ich in dem Jahr geboren wurde, in dem alle Mädchen auf den Namen Agata getauft wurden und alle Jungs auf den Namen Piotr“, dann hat dieses Erzähler-Ich ein erweitertes, allgemeines Bewusstsein.

Ich warte auf ein Gewitter. Die Wohnungsschlüssel wird mir W. per Post nachschicken. 
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