Beim Erzengel
Montag, Juli 11, 2005
  „Die Wand“ .

Ich bin seit Tagen antriebsschwach. Hatte Papierkram zu erledigen. Und Papierberge zu verschieben. Durch die ganze Stadt. Und durch das halbe Leben. Durch jenes halbe Leben, das hier ausgespart wird. Papier hat in meinem Fall nichts mit Schreiben zu tun.

Samstag Nacht, während einer trübsinnigen Rückfahrt vom Grunewald mit diversen Pendelzügen, fing ich „Die Wand“ an. Ich musste lesen, um mich zu beschäftigen. Um meine Augen auf etwas zu fixieren. Um dem Ekel in den schmutzigen S-Bahn-Zügen keine Chance zu geben. Auf mein ausgezeichnetes Abendessen.

„Die Wand“, ein Roman von Marlen Haushofer, erstmals erschienen 1963. Eine Frau tötet einen Mann – alles andere ist unwichtig. Sie erschießt ihn mit dem Jagdgewehr. Sie kennt ihn nicht. Hat nie ein Wort mit ihm gesprochen.
Auf über zweihundert Seiten lernen wir die Frau kennen, die sich in einer Ausnahmesituation befindet: der Rest der Welt ist von einem Unglück getroffen worden. Die Frau ist eines Morgens in einer Hütte in den Bergen von einer unsichtbaren Wand umgeben und scheint die einzige Überlebende zu sein. Außerhalb der Wand, das kann sie sehen – denn sie hat Augen im Kopf und besitzt ein Fernrohr, Bergschuhe, eine Jagdflinte, diverse Vorräte und klettert die Ränder der Wand ab, steigt auf Aussichtspunkte – gibt es kein Leben mehr. Ihr Hund Luchs ist bei ihr, eine trächtige Katze läuft ihr zu, ebenso eine trächtige Kuh. Die Streichhölzer, rechnet sie aus, würden für fünf Jahre reichen. Sie setzt Kartoffeln, Bohnen, trinkt Milch, entdeckt im Wald Himbeeren und Winteräpfel. Holz ist für die ganze Ewigkeit im Wald vorhanden. Die Kartoffeln reichen nicht für Hund und Herrin. So erlegt sie, widerwillig, Rehe. Die Kuh bekommt einen Stier. Zwei Sommer verbringen sie – immer innerhalb der gläsernen Wand – auf der Alm. Am Ende des zweiten Sommers, auf Seite 223 erschlägt ein Mann am Abend auf der Almwiese mit einer Axt den Stier. Die Frau war den ganzen Tag mit Luchs unten im Tal gewesen. Hatte die Wiese neben ihrer Hütte gemäht. Gras für den Winter getrocknet. Als sie mit dem Hund hochkam, war der Stier tot. Und der fremde Mann stand neben ihm. Luchs sprang dem Mann an die Kehle. Der Mann erschlug den Hund. Die Frau erschoss den Mann.
Auf Seite 226 endet der Bericht. „Es ist kein Blatt Papier übriggeblieben“.

Ich fing an zu lesen, um meinen Magen zu schonen. Das Klebrige am Boden, die zerkratzten Fensterscheiben, die schmierigen Griffe, die aufgeschlitzten Sitze nicht zur Kentnis zu nehmen. Es ist alter Dreck. Uralter Dreck. S-Bahn-Waggons werden nie geputzt. Heut früh entdeckte ich, als ich den Müll in den dritten Stock trug, dass auch in unserem Orwellhaus am Wochenende ins Treppenhaus gekotzt wird. Wohin auch sonst. Die Müllabwurfstelle im zweiten Stock meide ich und steige schnaufend mit meinem Eimer immer noch eine Treppe höher. Denn sie ist versaut. Und verstopft. Seit wir hier eingezogen sind.

„Die Wand“ hat mich einen Tag lang nicht mehr losgelassen. Ich las das Buch unter dem Erzengel aus. Spürte das Grausen. Im kühlen Erzählen einer Frau, die an den Tod nur glaubt, wenn sie ihn sieht. „Weil ich den Tod meiner Kinder nicht gesehen habe, bildete ich mir ein, sie wären noch am Leben. Aber ich sah, wie Luchs erschlagen wurde. Ich sah das Hirn aus Stiers gespaltenem Schädel quellen ...“ Der Mann hingegen interessiert sie nicht. Weder tot noch lebendig. „Was immer er auch gewesen sein mochte, jetzt war er nur tot.“ Sie lebt in einer gewissenlosen Welt. In einem rechtsfreien, nur zum Himmel hin offenen Raum. Nur eine Frage beschäftigt sie noch: „Ich möchte wissen, warum der fremde Mann meine Tiere getötet hat.“ Weil sie nicht mit dieser Frage im Kopf den ganzen Winter am Tisch sitzen mag, fängt sie an, ihren Bericht niederzuschreiben. Auf die Rückseite von alten Kalenderblättern und auf vergilbte Briefbögen. Bis alles Papier ihrer Welt vollgeschrieben ist. Und die Frage „Ich möchte wissen, warum ich einen Mann getötet habe“, nirgends mehr Platz findet. 
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